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Lesereise Schottland

Lesereise Schottland

Titel: Lesereise Schottland
Autoren: Ralf Sotscheck
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verbessert habe. Spätestens im Alter von sieben Jahren fallen begabte Kinder aus armen Familien in ihren akademischen Leistungen hinter weniger begabte Kinder aus reichen Elternhäusern zurück. Nur knapp vier Prozent der Schulabgänger in den ärmsten Gegenden schaffen den Sprung an weiterführende Schulen oder Ausbildungsstätten, in den reichsten dreihundertsechzig Wahlkreisen sind es dagegen neunundneunzig Prozent. In den ärmsten zwanzig Wahlkreisen geht nicht mal eins von zwanzig Kindern auf die Universität.
    »Es ist eine Schande, dass Großbritannien immer noch am Ende der internationalen Tabelle der sozialen Mobilität steht«, sagt Peter Lampl, der Vorsitzende von Sutton Trust. »Es ist erschütternd, dass der Lebensweg junger Menschen vom Einkommen der Eltern abhängt, und dass sich daran in dreißig Jahren nichts geändert hat.« Unter Labour, das Großbritannien dreizehn Jahre lang regierte, hat die Mittelschicht vom Boom profitiert, während das Einkommen der unteren Schichten gesunken ist. Die oberen zehn Prozent besitzen in Großbritannien inzwischen mindestens hundert Mal so viel wie die unteren zehn Prozent.
    Unter der Koalition aus Tories und Liberalen Demokraten, die seit den Wahlen im Mai 2010 regiert, wird sich die Lage eher verschärfen. Die Regierung will mit einem drastischen Sparprogramm und Steuererhöhungen binnen fünf Jahren das Rekorddefizit ausgleichen. Das Institut für Steuerkunde schrieb in einem Bericht, dass die unteren Einkommensschichten – vor allem, wenn sie Kinder haben – aufgrund der Kürzungen im Wohlfahrtsbereich die größten Verlierer seien. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung verlieren fünf Prozent ihres Einkommens, während die oberen zehn Prozent nicht mal ein Prozent einbüßen, stellte das Institut fest.
    Ian hat sich inzwischen aufgerappelt und klopft von seiner abgewetzten Cordhose den Staub ab. Er hat genug Geld für einen Schuss und geht in die Bahnhofshalle. Rechts sind die Schaufenster einer Drogerie, links ist der Fahrkartenschalter. Doch der interessiert Ian nicht. Queen Street Station ist ein Kopfbahnhof. Gleis eins liegt etwas abseits, weil die Schienen schon ein Stück weiter vorne aufhören. Ein Elektrozug mit zwei Waggons wartet auf das Abfahrtssignal. Ian muss nach Possilpark. Das sind nur zwei Stationen, die Fahrt dauert zehn Minuten. Wenn er Glück hat, kommt kein Kontrolleur. Sonst muss er eine Fahrkarte für siebzig Pence nachlösen.
    Diesmal hat er Glück: Der Kontrolleur macht sich gar nicht erst die Mühe, Ian nach seinem Ticket zu fragen. Der Bahnsteig in Possilpark ist neu gepflastert, neben den Treppen hat man für beide Fahrtrichtungen neue Zugänge für Rollstühle gebaut. Ian nimmt die Treppe, zwei Stufen auf einmal, und biegt oben in die Balmore Road ab. Er will mich nicht dabeihaben, wenn er seinen Dealer sucht.
    Nach ein paar Hundert Metern stößt die Balmore Road auf die Saracen Street. Das ist das Zentrum des schottischen Heroinhandels, die Junkies kommen aus dem ganzen Land hierher. Man kann keine drei Schritte gehen, ohne einem zugeknallten Jugendlichen zu begegnen. Manche versuchen, Uhren oder Taschenrechner zu verkaufen, die sie in der Stadt geklaut haben. Es fällt auf, wie wenig Autos auf der Straße parken. Jede Woche tauchen mehr als ein Dutzend gestohlene Autos in der Saracen Street und ihren Seitenstraßen auf, darunter die Killearn Street, wo Ian wohnt. Sämtliche Geschäfte sind gesichert wie Forts, selbst im Süßwarenladen ist die Kundschaft durch Stahlgitter von der Ware und der Verkäuferin getrennt. Um die Gemüsegärtchen ist Stacheldraht gezogen.
    Das war nicht immer so. Die Gießerei in Possil war im 19. Jahrhundert weltberühmt für ihre Dampfmaschinen, in Kalkutta gibt es heute noch Musikpavillons aus diesem Betrieb. Damals, 1892, wurde auch die Oberschule in Possilpark eröffnet. Hundert Jahre später ist sie von den Tories samt dem dazugehörigen Schwimmbad dicht gemacht worden – zu geringe Schülerzahl, lautete die Begründung. »Mit dem Schwimmbad verschwand das einzige Freizeitangebot in Possil«, sagt Jim, ein Sozialarbeiter. »Ein Drittel der Menschen ist hier arbeitslos, in einem Drittel der Haushalte leben Alleinerzieher, meistens Mütter. Possil hat die schlechtesten Zahlen Großbritanniens bei Kindesmissbrauch, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung und so weiter. Die Tories hatten Schottland abgeschrieben, lange bevor sie hier ihrer letzten Abgeordneten verlustig gegangen sind.«
    Die
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