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Lesereise Schottland

Lesereise Schottland

Titel: Lesereise Schottland
Autoren: Ralf Sotscheck
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Weltgesundheitsorganisation WHO hat in einem Bericht festgestellt, dass Glasgow die »Injektionshauptstadt der Welt« sei. 1990 hingen etwa achttausendfünfhundert Menschen an der Nadel, heute sind es weit über zehntausend. Wenn man die Zahlen auf Berlin überträgt, dann wären das fünfzigtausend Junkies und vierhundert Drogentote im Jahr. Autopsien werden im Schnellverfahren erledigt, der Kopf wird dabei nicht geöffnet. »Zu gefährlich«, sagt die Pathologin Marie Cassidy, »gar nicht wegen HIV , sondern wegen Hepatitis C. Man kann leicht die Luft mit dem Erreger verseuchen. Deshalb rühren wir die Köpfe der Drogentoten nicht an.«
    Die Anti-Drogen-Initiative der Polizei, die 1995 mediengerecht die »Operation Eagle« durchgeführt hat, ist verpufft. »Da haben sie eine Diskothek in Airdrie nachts umstellt und sind dann reingestürmt«, erzählt Jim. »Dann haben sie ein bisschen Heroin und eine Menge Temazepam beschlagnahmt, ein paar Leute festgenommen und jede Menge Interviews gegeben.« Die Medien waren zu dem Spektakel eingeladen, ganze Busse fuhren vor der Diskothek vor. Hinter vorgehaltener Hand geben viele Beamte zu, dass die Aktion ein Schlag ins Wasser war, weil die Dealer rechtzeitig von der anrückenden Horde Wind bekommen hatten. Allein in Possil soll es zweitausendfünfhundert Dealer geben.
    Inspektor Eddie McColm, der stellvertretende Chef des Drogendezernats in der Region Strathclyde, gibt offen zu, dass er keine Ahnung hat, wie das Problem zu bewältigen wäre. »Wenn ich ein Rezept dagegen hätte, würde ich es eintüten und weltweit verkaufen«, sagt er. Er setzt auf die nächste Generation. »Niemand aus der heutigen Elterngeneration hat durchgemacht, was die Vierzehn- und Fünfzehnjährigen heute durchmachen. Vielleicht dauert es noch fünfzehn oder zwanzig Jahre, bis es Eltern gibt, die wissen, was hier abgeht, und vielleicht helfen können.«
    Ian bleibt an dem Tag verschwunden. Auch am nächsten ist er nicht am Bahnhof Queen Street. Erst drei Tage später sitzt Ian wieder neben dem Eingang, er trägt immer noch dieselben Klamotten. Ob ich mal fünfzig Pence habe, fragt er und erkennt mich nicht. »Für eine Tasse Kaffee«, sagt er.

Reise ans Ende Großbritanniens
    Man muss wohl mal dagewesen sein, wenn man Brite ist. John O’Groats gilt als der nordöstlichste Zipfel Großbritanniens, das Gegenstück zu Land’s End in Cornwall, tausendvierhundertzwei Kilometer diagonal in Richtung Südwesten. Es ist auf der Insel die weiteste Entfernung zwischen zwei Orten, und aus diesem Grund sind sie berühmt. In Wirklichkeit ist John O’Groats weder der nördlichste noch der östlichste Punkt, genausowenig wie Land’s End der südlichste oder westlichste ist.
    Aber das macht nichts, beide Orte leben von ihrem Ruf. John O’Groats ist ein windiger Flecken mit zweihundert Einwohnern und ein paar Häusern. Kein Baum, kein Strauch, aber ein riesiger Parkplatz für die Reisebusse, die den ganzen Sommer über auf einen kurzen Abstecher herkommen. Am Ende des Parkplatzes steht »das letzte Haus in Schottland«, ein schiefergedecktes Cottage, in dem eine kleine Ausstellung über den Ort und seine Geschichte informiert, aber vor allem Postkarten und Souvenirs verkauft werden.
    »Die meisten steigen aus, machen ein paar Fotos vom Cottage und fahren weiter«, brummt Arty McKinnon. »Dabei gibt es viel zu sehen, wenn man nur ein bisschen Zeit hat.« Er stammt aus Wick, siebenundzwanzig Kilometer südlich, hat aber den größten Teil seines Lebens in John O’Groats als Fischer zugebracht. Jetzt ist er fast siebzig und fährt nicht mehr hinaus aufs Meer.
    McKinnon bringt mich auf dem Küstenpfad drei Kilometer nach Osten zum Duncansby Head, den ein Leuchtturm markiert, wo die Klippen sechzig Meter hoch aus dem Meer aufragen, unterbrochen von Felsspalten, die von den Einheimischen geos genannt werden. Etwas vorgelagert sind die Stacks of Death, die Todespyramiden, fünf spitze Felsbrocken, an denen Dutzende von Schiffen zerschellt sind.
    Das ist wirklich das Nordostende Britanniens. Im Nordwesten sind die Orkney-Inseln Hoy und Flotta zu erkennen. Bei klarem Wetter sieht man die Wara Hills auf der Hauptinsel, die früher Pomona hieß, heute aber meist Mainland genannt wird. Davor liegt Scapa Flow, im Zweiten Weltkrieg der wichtigste britische Marinestützpunkt. Im Ersten Weltkrieg jagten deutsche Matrosen, darunter mein Großvater, ihre eigene, gefangen genommene Flotte in die Luft, damit sie den Engländern
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