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Lesereise Paris

Lesereise Paris

Titel: Lesereise Paris
Autoren: Rudolph Chimelli
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ganzen Welt ihre Messen moderner Technik feiern. Doch die Neuen Mühlen, in den sechziger Jahren für zweitausenddreihundert Einwohner gebaut, liegen auf einem anderen Kontinent. Sie sind eine Enklave der Dritten oder Vierten Welt, arm, überbevölkert und unterbeschäftigt, einer von vierhundert Neubau-Slums am Rande von Frankreichs Städten. Rund zwei Millionen Menschen leben in solchen Siedlungen, die von der »Interministeriellen Behörde für die Städte« verschämt als »sozial gefährdet« klassifiziert werden.
    Als junge Leute in Mantes-la-Jolie, fünfzig Kilometer westlich der Neuen Mühlen, absichtlich mit einem gestohlenen Auto eine Polizistin tödlich überfuhren, geriet das ganze Land in Aufregung. Tatsächlich kommt es nach einem vertraulichen Bericht der Polizei durchschnittlich jeden Tag in den Vorstädten zu einem Zusammenstoß zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften. Neuerdings schießen die Randalierer auch auf die Polizisten oder Gendarmen. Aber so lange ein Zusammenstoß ohne dramatische Folgen bleibt, nehmen die Medien davon kaum Notiz: In Persan, dreißig Kilometer nördlich der Hauptstadt, greifen vierzig Randalierer eine Polizeiwache an, um einen festgenommenen Autodieb zu befreien; in Chanteloup-les-Vignes, zwanzig Kilometer nordwestlich von Paris, werden zwei Polizisten verletzt, die sich dagegen wehren, dass ihnen ihre Waffen entrissen werden; in Villeneuve-Saint-Georges am südöstlichen Rand der Kapitale, gerät die Feuerwehr durch einen absichtlich gelegten Brand in einen Hinterhalt und wird überfallen; neun Polizisten, die zu Hilfe kommen, werden verwundet, zwei durch Messerstiche. Aus allen Teilen Frankreichs kommen Berichte über gleichartige Zwischenfälle.
    Einst hatte Paris eine »rote Banlieue«, einen Ring kommunistisch regierter Gemeinden, der die konservative Hauptstadt umgab. Nun tritt in dieser Bannmeile der Nord-Süd-Konflikt an die Stelle des Klassenkampfs. Im Departement Seine-Saint-Denis, das unmittelbar nordöstlich ans Stadtgebiet von Paris grenzt, sind von 1,2 Millionen Einwohnern offiziell zweihundertfünfzigtausend nichteuropäische Ausländer. Hinzu kommen schätzungsweise sechzigtausend illegale Einwanderer. Eingesessene Franzosen empfinden diese Ziffern als trügerisch: Kinder nord- oder schwarzafrikanischer Einwanderer, die hier geboren wurden, besitzen die französische Staatsangehörigkeit. Sie erscheinen in dieser Statistik ebenso wenig als Ausländer wie schwarze Zuzügler aus den Übersee-Departements. Sie alle werden indessen von vielen angestammten Franzosen als Fremde betrachtet. Es gibt Wohnquartiere, in denen die alteingesessene Bevölkerung nur noch fünf Prozent ausmacht.
    In den Jahrzehnten des großen Wirtschaftswachstums wurden in Frankreich drei Millionen Wohnungen gebaut. Die expandierende Industrie brauchte Arbeitskräfte, die willig, billig und leicht fürs Fließband anlernbar waren. Sie kamen vor allem aus Nordafrika sowie aus den ehemaligen Kolonien südlich der Sahara. Da sie zunächst in bidonvilles lebten, selbst gezimmerten Siedlungen aus Kistenbrettern und Konservenblech, waren sie glücklich, wenn sie später in einen Betonturm mit sanitärem Komfort ziehen durften. Ihre ersten Nachbarn waren einkommensschwache Franzosen, Rentner oder junge Leute, die sich die steigenden Mieten von Paris nicht mehr leisten konnten. Die hübschen Namen der neuen Viertel wie »Silbertal« oder »Abt-Wäldchen« kaschierten vorerst den Umstand, dass man weitab organisch gewachsener Ortschaften gebaut hatte, dort, wo der Grund am billigsten war. An Einrichtungen für die soziale Infrastruktur oder an Verkehrsverbindungen dachte man später – wenn überhaupt. In der Ausstrahlung des intellektuellen Umbruchs von 1968 hatten viele Architekten kollektive Mustersiedlungen nach dem Beispiel von Le Corbusiers Cité radieuse vorgeschwebt. Das Ergebnis sah anders aus. Einwohner und Umwohner sprachen alsbald wie die Verwaltung von » ZUP « (Zone à urbaniser en priorité – Vorrangiges Urbanisierungsgebiet) oder » ZAC « (Zone d’aménagement concerté – Gebiet für konzertierten Ausbau). Aus den Neusiedlern wurden zonards . Soziale und ethnische Apartheid, anderswo historisch entstanden, wurde programmiert.
    Ende der achtziger Jahre schlug der Schwelbrand zum ersten Mal so helle Flam men, dass er für die ganze Nation sichtbar wurde. Im Lyoner Stadtteil Les Minguettes amüsierten sich junge Nordafrikaner in den heißen Sommernächten damit, mit
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