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Lesereise Paris

Lesereise Paris

Titel: Lesereise Paris
Autoren: Rudolph Chimelli
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Konfessionszugehörigkeit in der laizistischen Republik nirgends festgehalten. Mit mindestens fünf Millionen Anhängern – Ausländern, ihren im Lande geborenen Kindern, naturalisierten Einwanderern, Konvertiten – rangiert der Islam indessen mit Sicherheit vor etwa achthunderttausend Protestanten und siebenhundertfünfzigtausend Juden. Vielleicht gibt es sogar mehr praktizierende Muslime als Katholiken in Frankreich. Durch ihren Glauben fühlt Sonia sich nicht beengt. »Schon gar nicht in meinem Dasein als Frau. Geknechtet«, sagt sie, »ist die westliche Frau, die bereit ist, sich auszuziehen, um einen Joghurt zu verkaufen.«
    Vor gut zwanzig Jahren tauchten an Frankreichs Schulen erstmals Kopftücher auf, polemisch auch »Burka«, »Tschador« oder »Schleier« genannt. Erfahrene Schuldirektoren gingen dem Konflikt aus dem Weg, indem sie sich an die wertfreie Bezeichnung foulard islamique, islamisches Kopftuch, hielten und die auffällige Verhüllung pragmatisch den sehr viel diskreteren Halsketten mit Kreuz oder der jüdischen Kippa gleichstellten – beides Glaubenszeichen, die nie jemand beanstandet hatte. Im Oktober 1989 war der Konflikt um die islamische Verhüllung in Creil, gleichfalls ein Industrieort mit hohem Ausländeranteil nördlich von Paris, erstmals offen ausgebrochen. Das ganze Land verfolgte damals, wie drei Mädchen – Fatima, Leila, Samira – täglich in ihren Hüllen erschienen, regelmäßig abgewiesen wurden und schließlich das Lycée verlassen mussten.
    Unterstützt von islamischen Organisationen, klagten muslimische Eltern seither immer wieder vor Verwaltungsgerichten. Zweimal verwarf Frankreichs oberste Instanz, der Conseil d’Etat, generellen Ausschluss wegen Kopftuchtragens als unvereinbar mit der Glaubens- und Meinungsfreiheit. »Das Tragen religiöser Zeichen ist für sich allein nicht unvereinbar mit dem laizistischen Charakter der öffentlichen Schule«, entschied der Staatsrat. Nur wenn Tücher »ostentativ, in herausfordernder Weise, diskriminatorisch oder missionarisch zur Schau gestellt« würden oder wenn sie die Freiheit oder die Würde eines Schülers verletzen, sei ein Verbot gerechtfertigt. Fatima, Leila und Samira gingen danach wieder in die Schule. Nur zwei- bis dreitausend Mädchen haben sich, zum Teil als Folge der öffentlichen Kontroverse, im ganzen Land für den »Hedschab« entschieden – wie die vom Koran nur ungenau beschriebene Verhüllung eigentlich heißt.
    Ein Brennpunkt der Auseinandersetzung ist die Stadtregion Lille-Tourcoing-Roubaix im äußersten Norden Frankreichs. Dort wurden zunächst achtzehn muslimische Schülerinnen des Lycée Faidherbe von der Schule gewiesen, weil auch sie sich weigerten, das Kopftuch abzulegen. Es gab einen kurzen Hungerstreik, ein Polizeiaufgebot, das anstößige Textilien schon vor der Schultür abfing, Spruchbänder mit dem Motto »Unser Tuch ist unsere Ehre«, hinter denen nicht nur islamistische Gesinnungsgenossen, sondern auch Mitglieder einer trotzkistischen Splittergruppe marschierten. Von dreiunddreißig Schulen der Stadt und der Umgebung wurden insgesamt zweihundertelf Kopftücher gemeldet.
    »Gott ist groß, Sarkozy ist klein«, ruft ein Halbwüchsiger, der vor einem Kampfsport-Klub in der Nähe des Lycée herumhängt. Junge Muskelmänner aus dem islamistischen Umfeld stehen bereit, wann immer Schülerinnen für ihr Kopftuch demonstrieren wollen. Beim Biscotte-Viertel, wo regelmäßig Rauschgiftdealer von Islamisten gejagt werden, hat in einer ausgedienten Garage die »Sozial-Kulturelle und sportliche Liga von Lille« ihr Hauptquartier. Eine Moschee und eine Koranschule gehören dazu. Rund zwei Dutzend andere Gebetsstätten im Departement sind angeschlossen. »Sie haben nur noch die Wahl zwischen den Dealern und den Imamen«, so schilderte ein Polizist die Lage der jungen, chronisch arbeitslosen Gettobewohner gegenüber der Zeitung Le Monde .
    Roubaix war einst das französische Manchester. Doch die Textilfabriken haben zugesperrt. Die Einwohnerzahl ist von hundertneuntausend auf dreiundneunzigtausend zurückgegangen. Es ist nicht mehr viel los. Eine hochherrschaftliche Fünf-Zimmer-Wohnung in bester Lage kann man für unter fünfzigtausend Euro kaufen. Mehr als ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist ohne Beschäftigung. Als einzige Stadt Frankreichs hat Roubaix eine maghrebinische Mehrheit: Dreiundfünfzig Prozent der Einwohner stammen aus Nordafrika. Der Kardiologe Salem Kacet ist stellvertretender
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