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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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Santiago gegangen ist. Jetzt macht sie gerade Urlaub und geht nur den Teil zwischen Le Puy und Conques – denn diese ersten zwei Wochen der Reise fand sie landschaftlich am schönsten (was wir, im Nachhinein gesehen, nur bestätigen können). Die meisten Menschen, die den Jakobsweg gehen, befinden sich auf einem Scheideweg, erzählt Katharina – sie denken über eine Scheidung, eine berufliche Veränderung, eine Übersiedelung nach. Auch sie war damals in einer Situation, in der sie nicht weiterwusste. Sie ist froh, diesmal ganz unbeschwert gehen zu können.
    Der Abstieg von Saint-Chély-d’Aubrac nach Saint-Côme-d’Olt ist mit erstaunlich vielen Aufstiegen verbunden. Keiner sollte also die einfache Rechnung machen: Hier 800 Meter Höhe, da 380 Meter Höhe – das wird gemütlich. Wir haben für die 16 Kilometer fünf Stunden gebraucht, was vielleicht aber auch daran lag, dass wir so viele Brombeeren essen mussten. In Saint-Côme-d’Olt (Olt – ein seltsames Anagramm – ist übrigens die okzitanische Bezeichnung für den Fluss Lot), einem malerischen, ganz aus grauem Stein gebauten Ort, haben wir bei einem café crème dem heiligen Jakob dafür gedankt, dass es nur leicht geregnet hat: »Une pluie correcte«, »ein korrekter Regen«, wie Henri das heute früh sehr treffend nannte.
    Der nächste Ort, Espalion, ist schon eine richtige Stadt. Die Brücken, die hier über den Lot führen, und die Häuser, die am Rand des breiten, ruhigen Flusses stehen, gehören für mich zu den unvergesslichen Bildern der Reise. Ich hätte sie mir auch gerne länger angesehen. Aber die Pilgerherberge von Espalion liegt außerhalb der Stadt, und zwar in der falschen Richtung. Also sind wir Richtung Estaing weitergezogen, das im Übrigen den vorgenannten Städten an Schönheit in nichts nachsteht. Unterwegs hat uns ein heftiger gewittriger Regenguss überrascht. Ebenso überrascht hat uns, dass uns ein Autofahrer aufgelesen und die letzten Kilometer nach Estaing gebracht hat.
    Erst später haben wir erfahren, dass eine der »Legenden« des Weges hier in Estaing wohnt: Es ist der Arzt Léonard, der, nachdem er den Jakobsweg gegangen war, seine gutgehende Arztpraxis verkauft und sich mit seiner Frau und seinen Kindern hier angesiedelt hatte, um fortan Pilger zu beherbergen. Jeder bekommt bei Léonard eine Suppe und ein Lager, und, was manchmal wichtiger ist, einen medizinischen Rat oder ein aufmunterndes Wort. Wir haben auf dem weiteren Weg so viele schöne Geschichten von Léonard gehört, dass es uns leid getan hat, ihn nicht besucht zu haben. Aber so haben wir Katharina kennengelernt, und das war auch gut.
Espeyrac, 1. Oktober
    Wir sitzen im Speisesaal des etwas heruntergekommenen Hotels und trinken die Spezialität der Region: gentiane, einen süßlich-bitteren Enzianlikör. Er schmeckt zwar scheußlich, hat aber doch süchtigmachende Qualitäten. Anders gesagt: Ihn zu trinken ist wie Sauna. Man leidet, und es ist trotzdem schön. Gelitten haben wir heute auch beim Gehen: 25 Kilometer waren es zwar nur, aber etwa vier Fünftel davon auf Asphalt. »Das macht dar halt d’ Füß platt«, sagt Katharina so treffend auf Schwäbisch, und genau so ist es auch. Besonders mühsam war die letzte Stunde vor Espeyrac: Bergab, Asphalt, strömender Regen – da rutschen die Füße in den Schuhen hin und her. Der Mut sinkt, und die Blasen wachsen. Dabei hat es so schön begonnen: Die Uferpromenade den herbstlichen Lot entlang – so ein langer, breiter Fluss, in dem pointillistisch ein paar bunte Blätter treiben, das ist schon sehr gut für das Gemüt. Zu Mittag haben wir Katharina auf dem Weg wieder getroffen, und ungefähr zur selben Zeit hat es wieder stark zu regnen begonnen. Vielleicht trübt der Regen den Blick auf Wege, Dörfer, Landschaften, lässt die Schönheit gleichsam verschwimmen. So erscheinen uns Golinhac und Espeyrac als besonders trostlose Orte. Katharina ist hier im gîte d’étape der Gemeinde untergekommen, in dem zwar alles kaputt ist, dafür aber gratis. Der gîte d’étape verfügt über eine Dusche im Bretterverschlag, alte Krankenhausbetten, Schimmel an den Wänden, aber auch über einen wunderschönen Garten. Nachdem wir den aber heute kaum nutzen werden, haben wir uns für das 0-Sterne-Hotel entschieden, in dem wir wenigstens unsere nassen Sachen trocknen können.
    Katharina besucht uns zum dîner und isst wie wir das Einheitsmenü mit dem Eintopf, der nach Fisch schmeckt, ohne Fisch zu enthalten. Draußen
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