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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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viel Einsamkeit, viel Platz für Gedanken. Die mittelalterlichen Pilger fürchteten die Leere des Aubrac: »In loco horroris et vastae solitudinis«, wie es in einem alten Führer heißt.
    An der Bar »Aux 4 chemins«, wo tatsächlich vier Wege zusammenkommen, steht ein Schild: »Letzte Oase vor dem Aubrac«. Auch von den Einheimischen wird diese Gegend also als wüstenähnlich empfunden. An der Theke stehen zwei Männer, trinken pastis und reden, wie immer am Ende der Welt, von der weiten Welt: wieviel zum Beispiel in Italien ein Ferrari kostet und ob Battistuta ein guter Fußballspieler ist oder nur schön. Man hat uns, die »Australier«, schon hier erwartet – die Pensionisten sind wie immer vor uns. Oft geht man gemeinsam von den Herbergen oder Hotels weg. Doch beim Gehen wollen die meisten alleine sein, und es ist oft auch angenehm, wenn man den schönen Rhythmus der Schritte nicht durch Konversation stören muss.
    Am Vormittag sind wir durch das niederösterreichische Waldviertel gewandert und haben sogar einen prächtigen Steinpilz gefunden. Am Nachmittag sind wir dann in den schottischen Highlands angekommen. Geregnet hat es immer, aber auch das ist ja für diese beiden Landschaftstypen des Aubrac nicht gerade untypisch. »La pluie du matin n’arrête pas le pèlerin«, haben Henri und Vélimir heute früh gesungen: »Der Regen des Morgens hält den Pilger nicht auf.«
    Ja, der Regen des Morgens hört auch am Nachmittag nicht auf. Und doch haben wir diesen Tag sehr genossen: die Heidelandschaft mit dem mäandernden Flüsschen, hie und da ein paar Felstupfer, zur Strukturierung ein Steinmauerndekor, zur Auflockerung die Kühe mit ihren ausdrucksvollen Augen.
    Auf dieser Hochebene, auf der man Hunderte Kilometer weit sieht, wenn der Wind die Wolken lichtet, ist auch das Gehen sehr angenehm: Man kommt in seinen Trott, lässt den Blick schweifen (wie gut für die Augen, wenn sie so viel Freiheit haben!) – und auch die Gedanken beginnen gemütlich zu trotten und zu schweifen.
    Auch wenn man das Gefühl hat, in dieser Landschaft endlos weit gehen zu können – irgendwann werden die Beine müde. Sie werden es in Montgros, und das ist gut so: »Chez Rosalie« ist einer der schönsten gîtes d’étape auf dem ganzen Weg: Terracottaböden, Holzplafonds, Stofftischtücher, Massivholzmöbel, offener Kamin … Und in jedem Detail erkennt man »die persönliche Note«, jene von Rosalie eben. Das Pilgermenü kostet ein bisschen mehr als üblich, dafür ist es gleich um Klassen besser: kräftige Gemüsesuppe, saftiger Braten, frisches Gemüse, besonderer Käse aus der Region und der spezielle Pilgerkuchen des Hauses.
    Wir essen gemeinsam mit dem kanadischen Ehepaar und den beiden Herren aus Lyon. Insgeheim danken wir unseren Eltern, dass wir Französisch lernen durften. So können wir uns mit den anderen eingehend über das Lieblingsthema der Pilger unterhalten. Es lautet: Wie mache ich meinen Rucksack leichter? Während die Kanadier Marmelade und Honig für das Frühstück mit sich herumschleppen, wollen die Lyoneser sogar ihre Schlafsäcke nach Hause schicken. Ich habe diese Runde von Lehrern und Schuldirektoren ziemlich geschockt: Ich habe gestern ein Buch zerrissen, um die gelesene Hälfte, sicher an die zweihundert Gramm, an meine Schwester zu schicken.
    Die weiteren Themen unter Pilgern sind: Wie war welche Herberge? Wo gab es etwas Gutes zu essen? Sowie: Welche Gehtechnik ist die richtige? Absolute Tabuthemen, das haben wir jetzt schon gemerkt, sind: Warum gehst du den Weg? Was erwartest du dir davon? Sowie alle anderen metaphysischen und existenziellen Fragen. »Ça ne se fait pas« (»Das gehört sich nicht«), meinte Vélimir.
    Später erklärte uns der Koch von Rosalie, ein Bilderbuchkoch mit Schnurrbart, Bäuchlein und Schürze, warum wir das Französisch der Einheimischen so schlecht verstehen. Es ist nämlich gar kein Französisch, sondern »Langue d’oc« oder »Occitan«, also Okzitanisch, eine alte, aussterbende Sprache, jene Sprache, in der einst die Troubadoure dichteten. In dieser abgelegenen Gegend hat sie sich besonders gut erhalten. »Hier hat sich seit Jahrhunderten fast nichts verändert«, erzählt unser Wirt. »Es sind keine Menschen hergezogen, es sind nicht allzu viele abgewandert, und deshalb sprechen sogar die Jungen noch Okzitanisch.«
    Nicht nur die unfranzösische Sprache, auch eine andere französische Spezialität fällt uns auf: dass man nämlich hierzulande – abgesehen
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