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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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regnet es noch ein bisschen mehr als sonst, was gut ist, denn, wie Henri vorgestern sagte: »Den Regen, den es heute regnet, regnet es morgen nicht.« Während wir über weitere philosophische Implikationen dieser Weisheit diskutieren, meldet der Wetterbericht die Ankunft einer weiteren Störungsfront, was auf Französisch wenigstens elegant klingt: »Une nouvelle zone pluvio-instable atteint le pays …«
    Es heißt, dass die Pilger früher der Milchstraße gefolgt sind. Von Buñuel gibt es auch einen Film über den Jakobsweg: »La voie lactée«. Bei dem Wetter, das wir bis jetzt hatten, wären wir mit der Milchstraßenmethode nicht sehr weit gekommen.
Espeyrac, 2. Oktober
    Wir sitzen wieder da, wie gestern, mit Katharina, nur dass wir jetzt das Frühstück zu uns nehmen. Auch Katharina kennt eine Weisheit: »Gut gejammert ist halb zufrieden.« (Auf Schwäbisch klingt es noch weiser.) Und deshalb jammern wir schon eine Stunde lang vor uns hin, denn das Wetter ist heute noch ärger als gestern. Da hat man sich einmal zwei Monate freigeschaufelt, in denen man etwas unternehmen kann, und was machen wir?! In letztklassigen Hotels in miesen, grauen Dörfern herumsitzen und darauf warten, dass der Regen aufhört. Und so jammern und jammern wir, und es wird besser – nicht das Wetter, aber unser Gefühl. Und irgendwann haben wir genug gejammert. Wir steigen in unser feucht-kühles Wandergewand und stapfen in den Regen hinaus.
Conques, 2. Oktober
    Der Regen hörte bis Conques nur einmal auf, als nämlich Sturmböen die ganz dicken Wolken für ein paar Minuten vertrieben. Heute wurde uns bis auf die Knochen klar, warum der Pilger, der pèlerin, und der Regenumhang, die Pelerine, verwandte Worte sind. Ich habe heute meinen Wanderstock oder Pilgerstab zerbrochen. Er war aus dem Garten meiner Mutter, aus prächtigem Haselnussholz, liebevoll getrocknet. Als wir gerade über einen Grat gingen, auf Asphalt, durch und durch nass, und als mich die Schultern schmerzten von der Last des Rucksacks und als mich dann noch, wie zum Hohn, der eisige Wind einmal von vorne ins Gesicht, dann von links ins Bein und dann von hinten in den Nacken biss, beschimpfte ich den Jakob und alle anderen Heiligen. Ich redete mich in eine derartige Wut hinein, dass ich, mit dem Pilgerstab um mich schlagend, den Elementen zubrüllte, dass ich doch eigentlich evangelisch bin – und nicht einmal das richtig – und dass ich mit diesem ganzen Pilgerelend überhaupt nichts zu tun haben möchte. In diesem Augenblick zerbrach mein Stock an einem Zaunpfahl. Wütend brach ich ihn in weitere Stücke, schleuderte ihn weit in die Landschaft – und dann war mir leichter. Überhaupt fühle ich mich seitdem besser. Ich muss erstens diesen Stock nicht mehr mit mir herumschleppen, mit dem man ehrwürdig und auch ein bisschen lahm einherschreitet wie der Nikolo. Und zweitens kann ich jetzt beide Hände in die Taschen stecken oder baumeln lassen und mich überhaupt bewegen wie ein Mensch des ausgehenden 20. Jahrhunderts – und nicht wie ein »Besucher« aus dem Mittelalter.
    Conques ist toll. Alles hier ist alt, so alt sogar, dass man über die wahren Ursprünge von Conques gar nichts Genaues sagen kann. Die Ortschaft liegt in einem waldigen Talkessel, an einen Hang geklebt, und eigentlich spricht nichts dafür, hier, an diesem weder durch Höhe, Größe noch Schönheit auffallenden Hügel eine so großartige und gleichzeitig einfache Kirche und ein so monumentales und gleichzeitig schlichtes Kloster zu erbauen. Und doch begannen vor über tausend Jahren die Arbeiter damit, einen Stein auf den anderen zu legen, bis ein paar Hundert Jahre und einige Arbeiterleben später die ganze Sache fertig war. Dann kam, rund um das Jahr 1130, noch ein anderer großer Meister und meißelte »Das Jüngste Gericht« in die Steine über dem Kirchenportal. Er schuf damit eine der berühmtesten romanischen Skulpturen Mitteleuropas. Interessant ist übrigens, dass, wie in allen Darstellungen des Jüngsten Gerichts, die Abteilung »Hölle« bei Weitem lebendiger und gelungener ist als jene des »Himmels«. In der Hölle wird gejammert und gefoltert und gebrannt und aufgespießt und Unzucht getrieben und gevöllert und gelitten, dass es eine Freude ist. Im Himmel stehen alle brav nebeneinander und glotzen etwas gelangweilt vor sich hin. Wie soll man den Himmel auch darstellen? Es steht zu hoffen, dass es dort in Wirklichkeit nicht so fad ist.
    Wir nahmen im Kloster Quartier. Über endlose
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