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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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vielleicht von Paris – immer sehr höflich ist. Geht man zum Bäcker, sagt man: »Bonjour, Monsieur.« Die Dame auf der Post sollte man mit »Bonjour, Madame« und die Herrschaften in der Bar mit »Bonsoir, Messieurs-dames« begrüßen. Kommen einem auf der Straße eine Dame und ein Herr entgegen, nickt man höflich und sagt: »Madame, Monsieur.« Sogar in den Nachrichten sagt man hier »Madame Albright« und »Monsieur Jospin«. So viel Zeit muss einfach sein.
Saint-Chély-d’Aubrac, 29. September
    Heute: Schönwetter! Weil wir so hoch oben waren, immerhin auf 1368 Metern, haben wir sogar einen leichten Sonnenbrand, den wir fast genießen. Den ganzen Tag heute haben wir sehr genossen, die Heide- und Weidelandschaften der Hochebene, den Blick in das Lot-Tal hinab, den Kaffee in der Nachmittagssonne im Ort Aubrac. Und als Krönung ist auch der gîte d’étape hier in Saint-Chély wunderschön. Die Kanadier haben bereits Feuer im offenen Kamin gemacht, und, fast noch schöner, wir verfügen über ein eigenes kleines Zimmer. Abends kochen wir uns in der Gemeinschaftsküche Spaghetti. Danach sitzen wir mit den anderen rund um den Kamin und hören uns Anekdoten von Guy-Marie und Véronique vom spanischen Teil des Weges an. »Es war wunderschön!«, sagt Guy-Marie. »Wir haben soooo gelitten!« Wir fragen, ob das nicht ein Widerspruch sei, aber mit leuchtenden Augen antworten sie uns: »Man muss leiden, das ist wichtig!« Die beiden sind sehr katholisch.
    Die Deutsche, die wie ein Phantom vor uns herläuft, hat sich im hiesigen Herbergsbuch verewigt: »Auf meiner langen Reise habe ich mich hier einen Abend (am offenen Feuer!) richtig zu Hause gefühlt. Vielen Dank. Ultreïa, Ursula (Hof/Bayern->Santiago).« »Ultreïa« ist übrigens ein alter lateinischer Pilgergruß und bedeutet »immer weiter«, »immer darüber hinaus«. Und Hof, an der ehemaligen Ostgrenze Bayerns, ist sehr weit weg von Saint-Chély-d’Aubrac.
    Was geht in einem vor beim Gehen? Wenn wir einander fragen, woran wir gerade denken, dann sagt der andere meist: »Ach – an nichts.« Das kommt ungefähr hin. Der Weg ist ein Weg in die Gegenwärtigkeit. Man macht auch sehr schnell die Erfahrung, dass man Fehler macht, wenn man nicht »gegenwärtig« ist – man vergeht sich, übersieht Markierungen, vergisst, Wasser nachzutanken … So, wie wir unnötigen Ballast mit der Post heimgeschickt haben, haben wir auch alle für das Gehen unnötigen Gedanken in die Mailboxen abgelegener Gehirnteile gesandt. Mit ihnen auch alle Arten von »erhabenen« Einsichten oder philosophischen Erkenntnissen.
    Pilgern ist eine sehr unintellektuelle Erfahrung. Vielleicht kommt es deshalb in unserer hirnzentrierten Zivilisation wieder in Mode. Irgendeinmal fällt alles von dir ab. Du willst nur noch DA und gleichzeitig UNTERWEGS sein. Gehen ist jene Fortbewegungsart, deren Geschwindigkeit der Wahrnehmung am besten entspricht. Man misst die Welt aus, Schritt für Schritt, der Atem passt sich der Bewegung an, Rhythmus entsteht. Es ist der Rhythmus der Bewegung, und Bewegung ist Leben, das wussten schon die alten Griechen, die gerne im Gehen philosophierten. In diesem Rhythmus formen sich die Gedanken neu, ohne dass man es merkt, ohne dass man es erzwingen könnte. Wenn man geht, dann immer auch in sich.
Estaing, 30. September
    Heute würden wir die Kerze brauchen, die wir gestern zwecks Gewichtseinsparung zurückgeschickt haben. So ist das Licht zum Schreiben ein bisschen schummrig: offenes Feuer. Der große Kamin ist auch das einzig Schöne an dieser großen kommunalen Herberge. Die Trostlosigkeit des Schlafsaals erinnert an ein Krankenhaus. Wenn hier im Sommer vierzig Leute liegen, schlafe ich sicher lieber im Freien. Aber heute ist nur Katharina aus dem Schwabenland hier, mit der wir sogar Deutsch reden, seit wir entdeckt haben, dass sie allemande ist. Katharina kennen wir schon von der »Pilgerpost«, die einem von anderen Wanderern zugetragen wird. Sie ist die, die ihre nasse Hose im Backrohr des gîte d’étape von Aumont-Aubrac getrocknet hat.
    Den halben Tag lang sind wir heute durch Edelkastanienwälder gegangen. Wir haben Hosensäcke voll Maronen gesammelt, und die rösten jetzt langsam neben dem Feuer. Außerdem – es ist Erntezeit – haben wir zwei große Steinpilze gefunden, die wir ebenfalls braten. Und auch die Flasche Rotwein ist schon geöffnet.
    Katharina erzählt uns, dass sie schon vor zehn Jahren, nach dem Abitur, den ganzen Jakobsweg von Le Puy bis
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