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Lesereise - Afrika

Lesereise - Afrika

Titel: Lesereise - Afrika
Autoren: Andreas Altmann
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ein hochoffizielles Institut für Sozialforschung angegeben. Möglicherweise ist die Zahl übertrieben, okay, sagen wir fünfzehn Jahre, das entspricht in etwa der Dauer, die Otto, der Durchschnittsweiße, bei uns investiert, um sich von der Banalität seines Lebens abzulenken. Gibt es eine Todsünde, dann die: Seine Lebenszeit vor die Säue zu werfen. Erstaunlich nur, mit welcher Nonchalance die vielen sich dazu entschließen. Ich würde gerne wissen, wie die Glotzer der so heimlichen Frage ausweichen, die sie bisweilen einholen muss: Wie steht’s mit deinen Träumen? Mit der Erinnerung an den Knirps, der unter der Bettdecke Geschichten las und sich schwor, sie in seine eigene Wirklichkeit zu retten?
    Am nächsten Morgen gehe ich ins Ali Baba Café. Hierher kam Nagib Machfus jeden Tag um Schlag sieben, bestellte zwei Tassen Kaffee und las die Zeitungen. Gestern lief über BBC die Meldung, dass Bill Gates im letzten Jahr 1.455.000 Dollar verdiente. Pro Stunde. Machfus, der Nobelpreisträger von 1989, konnte die ersten siebzig Jahre nicht von seinen Büchern leben. Deshalb wanderte er – nach dem Frühstück – zu seinem Schreibtisch in der Redaktion von Al-Ahram , um sich als Lohnschreiber seinen Unterhalt zu verdingen.
    Ich bleibe und lese. Martin Walser notierte einmal: »Oft macht mir das Lesen mehr Vergnügen als das Atmen.« Das ist ein furchtbar wahrer Satz. Was immer Lesen für den Einzelnen bedeutet, es gab vor vierhundert Jahren eine Zeit, in der es einem das Leben rettete. Nicht im übertragenen Sinne: Um sich zu wappnen gegen das Gedröhn des Blödsinns. Oder: Um seinen Weg zu finden. Nein, hundert Prozent tatsächlich: 1605 verübten William und Paul einen Raubüberfall auf das Haus des Herzogs von Sussex. Sie wurden festgenommen und verurteilt. Der genaue Wortlaut des Richters lautete: »Besagter William liest nicht, er wird gehenkt. Besagter Paul liest, er wird verstümmelt.« Pauls Strafe war nicht gerade zimperlich, verstümmeln hieß, ihm die Daumen abzuschlagen. Aber Paul überlebte, weil er das sogenannte »benefit of clergy«, das Vorrecht des Klerus, beanspruchte. Was bedeutete, dass er mindestens einen Satz aus der Bibel lesen konnte. Und bereits diese Fähigkeit war nach dem englischen Recht des 17. Jahrhunderts Grund genug, ihn vor dem Galgen zu bewahren.
    Tolle Geschichte. Soll einer kommen und eine wirkungsvollere Methode erfinden, um die Menschheit zur Kunst des Lesens zu überreden. Kein Wunder, dass zu jener Zeit in England mehr lesekundige Verbrecher herumliefen als irgendwo sonst auf der Welt.
    Ein Händler mit Bauchladen betritt das Café, er sieht mich und zieht ein Döschen heraus, auf dem geschrieben steht: »Pills to warm an indifferent heart!« Warum spricht er mich an? Vermutet er, dass Fremde ein gleichgültiges Herz haben, das gewärmt werden muss? Clever. Natürlich kaufe ich die roten (!) Pillen. Ich werde sie schlucken, wenn die schwierigeren Zeiten anbrechen und mir die Menschenfreundlichkeit abhanden kommt.
    Vor meiner Abreise traf ich einen Magnum-Fotografen, den ich von einer gemeinsamen Reportage her kannte. Wir saßen in einem Restaurant neben der Bastille und er sagte den so befremdlichen Satz: »In Paris bin ich blind.« Er wollte damit sagen, dass er keine Aufträge annehme, um Fotos von dieser Stadt zu machen. Denn er habe zu lange hier gelebt, seine Augen seien stumpf geworden, er müsse raus, erst draußen, außerhalb der Stadtgrenzen, komme seine Sehkraft zurück.
    Ich wandere wieder in den Süden der Stadt, nochmals nach Old Cairo. Der Fotograf hat recht, leider. Erst in der Fremde schauen wir wieder auf, werden wacher, vifer, kommen der augenblicklichen Situation viel näher.
    Uraltes Kairo. Die an den Wänden entlang sitzenden Wahrsagerinnen. Die Frau, die einen Korb vom Balkon ihres sechsten Stocks herunterlässt, um dem unten vorbeiziehenden Gemüsehändler drei Kilo Tomaten abzukaufen. Der Hemdenbügler, der mithilfe eines großen Schluckes Wasser und einer Zahnlücke die Wäsche seiner Kunden einsprüht. Und die Kinder, die meine Hand nehmen und mich um drei Ecken zu einem Wunder zerren: ein Hochglanz-Mercedes mitten im Dreck der Dritten Welt. Mit dem wichtigsten Detail, einem kalifornischen Kennzeichen. Der Wagen ist von allen Seiten einsehbar, sicher so vom Besitzer geplant. Wie eine Kriegsbeute, wie ein Thronsessel aus Chrom steht er da, umringt von den staunenden armen Schluckern. Die frohe, herausfordernde Botschaft ist klar: Hier ist einer zu
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