Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leonardos Drachen

Leonardos Drachen

Titel: Leonardos Drachen
Autoren: Alfred Bekker
Vom Netzwerk:
das geht doch nicht!“
    „Du musst ein Stück mit ihm laufen, dann geht das bestimmt. Aber du siehst ja, dass ich alle Hände voll zu tun habe!“
    Clarissa raffte ihr Kleid zusammen. Sie knotete es zusammen, damit sie etwas mehr Beinfreiheit hatte. Dann versuchte sie, den kleineren Drachen steigen zu lassen. Sie zog ihn an, rannte ein Stück und – tatsächlich, er stieg. Eine Windböe, die durch das Geäst der umliegenden Bäume strich, hob ihn schnell empor. „Bleib nur oben!“, rief sie. „Nur oben bleiben!“
    Inzwischen war in der Krötenschlucht die Hölle los. Die Männer schrien durcheinander. So etwas wie diese beiden Drachen, deren Geräusche eine Mischung aus dem Zischen einer Schlange und einem Hornissenschwarm zu sein schienen, hatten sie noch nie gesehen.
    „Höllendämonen!“, rief einer von ihnen. „Das sind die Kreaturen des jüngsten Tages.“
    „Weg hier!“
    „Ja, weg hier, ehe sie uns fressen!“
    „Wir müssen verflucht sein!“
    Die ersten Pferde hörte man wiehern und davongaloppieren. Während Clarissas Drachen am Himmel stand wie ein Vogel, der sich darauf vorbereitete, mit einem Sturzflug die Beute am Boden anzugreifen, machte Leonardos Exemplar immer wieder Schwierigkeiten. Der Steuerschwanz war wohl einfach zu kurz. Dass es damit etwas zu tun hatte, war inzwischen auch Leonardo klar, denn als der Papierschwanz noch die doppelte Länge gehabt hatte, war der Drachen leichterzu handhaben gewesen. Jetzt konnte er allerdings daran nichts ändern. Er musste einfach das Beste aus der Situation machen und ihn immer dann, wenn er abzustürzen drohte, schnell wieder hochreißen. Gerade raste er auf eine Baumkrone zu, und Leonardo schaffte es im letzten Moment noch, eine Bruchlandung im Geäst zu verhindern.
    Er stieg wieder.
    Doch dann brach er zu der anderen Seite aus. So schnell und heftig, dass Leonardo nicht rechtzeitig reagieren konnte, zumal auch noch eine Windböe aus sehr ungünstiger Richtung kam.
    Der Drachen raste geradewegs in einen Baum hinein, der schon irgendwann einmal vom Blitz getroffen und gespalten worden war, sodass die Hauptgabelung seines Stammes sehr tief saß. Der Drachen blieb hängen.
    Leonardo schlug das Herz bis zum Hals. „Wenigstens ist er nicht zu Boden gegangen, sodass jeder sieht, dass er nur aus Papier ist!“, ging es dem Jungen durch den Kopf. Dort oben in der Baumkrone blieb die Illusion, dass es sich um einen fliegenden Höllendämon handelte, vielleicht noch einen Augenblick länger erhalten   …
    Clarissa war durch den Absturz von Leonardos Drachen so abgelenkt, dass sie um ein Haar nicht aufgepasst hätte und auch noch das zweite fliegende Papierungeheuer abzustürzen drohte. Im letzten Moment konnte sie das verhindern.
    Sie lauschten. In der Krötenschlucht war nichts mehr zu hören. Keine Stimmen, kein Pferdewiehern. Nur dasPrasseln eines Feuers und das schnarrende Geräusch von Clarissas Drachen.
    „Sie sind weg“, sagte Leonardo und seine Miene hellte sich augenblicklich auf. „Sie haben den Absturz gar nicht mehr mitgekriegt!“
    Jetzt stürzte auch Clarissas Drachen ab. Er knallte gegen einen Baumstamm und schon im nächsten Moment war klar: fliegen würde er selbst bei hingebungsvollster Reparatur nie wieder.
     
    L eonardo und Clarissa stiegen über einen sehr steilen, rutschigen Pfad hinab ins Tal. Es dauerte nicht lange, bis sie das Lager erreicht hatten – oder das, was davon noch übrig war. Zuerst löschte Leonardo das Lagerfeuer. Schließlich wollte er nicht, dass auch noch ein Waldbrand ausbrach. Dann sahen sie sich um. Die Flucht war, genau wie Leonardo es geplant hatte, völlig überstürzt vonstattengegangen. Manche der Männer hatten nicht einmal das Pferd gesattelt. Es waren Taschen und Kleidungsstücke zurückgeblieben. Sogar einen Beutel mit Schwarzpulver fand Leonardo. Den nahm er gleich an sich. „Kann ich bestimmt noch gebrauchen“, meinte er.
    „Aber deine Hände und Augen wirst du sicher auch noch brauchen, also würde ich die Finger davon lassen!“, meinte Clarissa.
    „Ich passe schon auf.“
    „Ja, ja   …“
    „Glaubst du es nicht?“
    „Soll ich jetzt wirklich ehrlich darauf antworten, Leonardo?“ Clarissa hatte ein Wams in der Hand, daseiner der Männer zurückgelassen hatte. Aus einer aufgenähten Tasche holte sie ein zusammengefaltetes Blatt hervor. Sie ließ das Wams sinken, faltete das Blatt auseinander und zeigte es Leonardo.
    „Das ist eine Skizze, die genau die Stelle zeigt, wo der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher