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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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tritt der Lemming dazwischen. Seine Stimme klingt heiser, nervös, als er sich an Frank Lehner wendet; ein Anflug von schlechtem Gewissen schwingt mit. «Wie sind Sie dahintergekommen?»
    «Café
Kairo
», gibt Lehner zurück, ohne Gartner dabei aus den Augen zu lassen. «Die haben die Leuchtschrift wieder angedreht. War aber trotzdem ein lustiger Trick, ihr romantisches Telefonat in der U-Bahn . Könnte von mir sein, wenn ich noch Schriftsteller wäre   …» Frank Lehner verstummt. Er schiebt sich am Lemming vorbei und geht langsam auf Gartner zu. «Komm schon, du Ratte. Auf zu den Lehners   …»
    «Nix da!», meldet sich Polivka endlich zu Wort. «Der Herr Gartner is indisponiert, der hat so viel zu tragen, und außerdem fahrt er jetzt gleich ins Spital.»
    Auch Genies können sich täuschen.
    Denn mit einem Mal geht alles Schlag auf Schlag.
    Während sich Gartner mit klimpernden Weinflaschen hinter Polivkas Rücken verschanzt, taucht eine weitere Silhouette aus dem Nebel auf. Zunächst bemerkt sie nur der Lemming, die hagere, gebeugte Figur, diesen Schatten eines Schattens: kein Charon, kein Fährmann. Ein Sensenmann.
    Es ist Paul Smejkal.
    Er muss dem Lemming und Lehner gefolgt sein, ja mehr noch, er muss sie belauscht haben, nach ihrem Weggang aus seinem Haus: Offenbar hat ihr kleines Gespräch den Entschluss in ihm reifen lassen, seine Reisegruppe in die Hölle um eine Person zu erweitern. Nicht anders ist es zu erklären, dass er, ohne Frank Lehner auch nur eines Blickes zu würdigen, zügig an diesem vorbei- und auf Polivka zusteuert.«Du!» Sein ausgestreckter Arm, sein langer, knochiger Finger zeigt auf das Augenpaar, das irritiert neben Polivkas Schulter hervorblinzelt, zeigt auf Hannes Gartner. «Du!»
    «Momenterl   … Herr Smejkal! Momenterl!» Beschwichtigend hebt der Inspektor die Hände, taumelt dann aber zurück, gerempelt, ja regelrecht umgerannt von diesem furiosen Alten, diesem archaischen Rammbock. Polivka strauchelt und stürzt; er stürzt auf den Gehsteig, der leer und verlassen hinter ihm liegt.
    Die Ratte ist losgehuscht. Sie flitzt durch die Mosergasse in Richtung Donaukanal: eine flüchtige graue Kontur, die sich zusehends auflöst, bald völlig im Dunkel verliert. Nur das Splittern von Glas ist auf einmal zu hören, der Klang zerberstender Flaschen. Gartner hat sich seiner Beute offenbar entledigt. Sieben Bouteillen gegen ein Leben: keine so schwierige Rechnung.
    «Dreck!», stöhnt Polivka. «Scheißdreck!» Mit schmerzverzerrtem Gesicht lässt er sich vom Lemming auf die Beine helfen.
    «Ist alles in Ordnung? Haben Sie sich was gebrochen?»
    «Höchstens den Arsch   …» Polivka richtet sich vorsichtig auf, betastet durch den Mantel sein Gesäß.
    «Steißbein wahrscheinlich.» Der Lemming nickt mitfühlend.
    «Aber der Notarzt ist eh gleich da.»
    «Notarzt? Und wer verfolgt dann die beiden?»
    Vom milchigen Licht einer Straßenlaterne gestreift, verschwinden auch Lehner und Smejkal gerade im Nebel; Seite an Seite laufen sie der Ratte hinterher. Ein Bild stummer Eintracht: Fährmann und Sensenmann auf der gemeinsamen Jagd, auf der Hatz nach dem Niemandsmann.
     
    «Dort!» Polivka deutet nach links, Richtung Norden. Der Lemming nickt. Ja, auch er kann es hören: das Keuchen, das hektische Kleidergeraschel, die kurzen, verhaltenen Rufe.
    Als würde die Tonspur eines fernöstlichen Kampffilms von der feuchten Luft verstärkt und weithin durch die Finsternis getragen. Der Nebel ist eben ein Schelm; er liebt es, die Leute zum Narren zu halten: Den Blinden lässt er Flügel wachsen, den Tauben raubt er das Augenlicht.
    Sie wären gar nicht erst so weit gekommen, der Lemming und Polivka, hätten sie die Schritte der laufenden Männer, das Schnaufen des alten Paul Smejkal nicht so klar aus der Dunkelheit vernommen. Sie sind der akustischen Fährte bis hierher gefolgt: auf die schmale, von Linden gesäumte Allee, die zwischen U-Bahn -Station und Rossauerlände verläuft. Jetzt setzen sie sich wieder in Bewegung und hasten, so schnell es Polivkas schmerzendes Hinterteil zulässt, an der Station entlang. Nach etwa hundert Metern öffnet sich der Weg nach rechts, wo jenseits einer langen Balustrade der Kanal die Stadt durchschneidet.
    In der Kindheit des Lemming ist hier eine hölzerne Rollfähre zwischen den Ufern gependelt: ein Stück Nostalgie aus einer Zeit, in der man Zigaretten noch einzeln kaufen und auf die fahrende Straßenbahn aufspringen konnte. Heute spannt sich eine schmale
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