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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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Menschen, so denkt er, muss dieser schleimige Wechselbalg auf dem Gewissen haben, wenn er nicht gleich auf die junge Familie kommt, die ihm zum Opfer gefallen ist.
    «Benjamin Lehner.» Beinahe tonlos hat der Lemming das gesagt. «Benjamin Lehner, acht Monate alt.»
    Gartner zuckt nicht mit der Wimper. Er spitzt nur die Lippen und runzelt die Stirn: ein vielbeschäftigter Mann, der so freundlich ist, seine Erinnerung zu bemühen. «Selbstverständlich, selbstverständlich!», ruft er dann aus. «Diese entsetzliche Sache, ich weiß schon: Vater gewalttätig, Mutter verwahrlost. Während er im Gefängnis war, hat sie das arme Kind zu Tode kommen lassen – eine furchtbare Tragödie.»
    «Ruhig bleiben.» Polivka ist an die Seite des Lemming getreten und legt ihm die Hand auf die Schulter. «Ruhig bleiben, net echauffieren   …»
    «Diese Leute haben schon immer versucht, mir was anzulasten», redet Gartner währenddessen weiter. «Die haben sich förmlich auf mich kapriziert, ich weiß nicht, warum. Vor einem Jahr hat mich der Herr Lehner sogar attackiert, völlig grundlos, aus heiterem Himmel. Also wenn Sie jetzt sagen, dass die was mit meiner Entführung   … Gut möglich, gut möglich; zuzutrauen wär’s denen allemal.»
    «Bleiben S’ ruhig, Herr Wallisch», raunt Polivka dem Lemming noch einmal ins Ohr. «Und geben S’ mir die Schlüssel : Wir sollten da schleunigst hinaus, Sie sind ja ganz blass   …»
    Ja, der Lemming ist blass. Blass vor Wut und blass vor Brechreiz, kurz davor, sein Inneres nach außen zu stülpen. Während er wie ferngesteuert in die Tasche greift und PolivkaAngelas Schlüsselbund reicht, betrachtet er Gartner wie etwas, in das man getreten ist. Etwas, das man sich so rasch wie möglich an der nächsten Gehsteigkante von den Sohlen kratzt.
    Steigt halt ein anderer hinein   …
    Dieser klebrige, schmierige Mann, dieser Niemandsmann. Dieser Mann, den ein todkranker Engel zu
läutern
versucht hat – mit all diesem ungeheuren Aufwand   –, statt ihn einfach zu zertreten. Dem sie das Leben nicht nur geschenkt, sondern auch noch gerettet hat: Hunderttausende Tote im Indischen Ozean. Aber der Niemandsmann lebt. Eine Frau, ihre Mutter, ihr Kind: eine halbe Familie ausgerottet. Aber der Niemandsmann lebt. Er lebt weiter als einer, dem man das Herz und das Rückgrat nicht brechen kann, weil er kein Herz und kein Rückgrat besitzt. Die arme, tote Angela, der arme rote Engel. Ihre Inszenierung war zu groß für diesen Mann, diesen Mann ohne Rückgrat. Wie hält sich Gartner nur aufrecht?, fragt sich der Lemming. Eine rhetorische Frage natürlich; die Antwort liegt längst auf der Hand: Wer eine dicke Haut hat, kann auch ohne Rückgrat stehen.
    Bezirksinspektor Polivka kniet mittlerweile. Er kniet auf dem Boden, als wollte er dem einen Gartner einen anderen von den Schuhen kratzen. Stattdessen schiebt er nun aber den letzten der drei Schlüssel in das Schloss der Fußfessel und dreht ihn – das Eisen springt auf.
    «Bestens, bestens. Vielen Dank, die Herren. Wenn ich einmal etwas für Sie tun kann, wohnungsmäßig zum Beispiel   …»
    «Danke. Sie können mir sagen, wo die Toilette ist.» Der Lemming würgt.
    «Gleich dort: das kleine Türchen links vom Bett.» Der Lemming setzt sich in Bewegung, um in die angegebene Richtung zu eilen. Hält jedoch nach ein paar Schritten inne. Und kehrt um.
    «Wissen S’, was, Herr Gartner?»
    «Ja bitte?»
    Ein tiefes, grollendes Rülpsen. Dann schleudert der Lemming der Ratte die Antwort ins Gesicht: zwei Teile Magensaft, drei Teile Raki, fünf Teile Kaffee.

29
    «Ja also   … Ja also   …»
    Der Niemandsmann ringt noch immer nach Worten. Wie das Erbrochene in seinem Hemdkragen schäumt auch er selbst – das ist seinen grimmig verkniffenen Mundwinkeln anzusehen. Trotzdem lässt er seinem Ärger keinen freien Lauf: Bei einem vermeintlichen Beamten im gehobenen Polizeidienst heißt es Zurückhaltung üben, so gern man diesem Schmutzfink auch die Meinung sagen würde. Dinge wie:
Sie werden von meinem Anwalt hören, Herr Wallisch! Sachbeschädigung, Ehrenbeleidigung, Quälen eines Gefangenen – das wird Sie teuer zu stehen kommen!
Aber nein, es wäre alles andere als opportun, sich mit Drohungen Luft zu verschaffen, wo dieser Wallisch doch auch diesen Onkel hat, diesen Onkel – was heißt!   –, diesen
Hofrat
Sabitzer im Ministerium, noch dazu im
Innenministerium
! Kontakte! Kontakte! Wenn die zarte Nabelschnur zur Obrigkeit einmal zerrissen ist,
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