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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn
Autoren: Stefan Slupetzky
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euch vor der Kälte schützen.
    Der Lemming schmunzelt still in sich hinein, als er mit Ben vor die Tür tritt. Unvermutet ist ihm das alte Gedicht wieder eingefallen, das ihn durch sein erstes Volksschuljahr begleitet hat. Er kann sich auch seiner Verwirrung entsinnen, als er erstmals den letzten Vers buchstabierte: Was, so hat er sich damals gefragt, soll es gegen die Kälte helfen, wenn man sich auf Mützen setzt?
    Untrennbar mit dieser Erinnerung verbunden ist jene an die Bebilderung des Lesebuchs: ein Klischee von geröteten Backen und glänzenden Augen, von lachenden Kindergesichtern, Rodelfahrten und Schneeballschlachten. Ein Klischee aber, das – jedenfalls in der Rückschau – vollkommen der Wahrheit entsprach. Der Zauber des Winters ist niemals verflogen; seine würdevolle Pracht berührt auch heute noch das Herz des Lemming.
    Dass etwas so Großes so friedlich sein kann.
    Friedlich und groß sind auch Benjamins Augen. An die warme Brust des Lemming geschmiegt, hängt er im Tragesack und saugt die weiße Märchenwelt mit allen Sinnen auf. Den Duft der kristallklaren Luft. Das Knistern der fallenden Flocken. Das flüchtige Kribbeln, wenn sie auf den Wangen landen und zerschmelzen. Das magische Licht, das von unten, direkt aus der Erde zu schimmern scheint   …
    So plötzlich zerfetzt das Getöse die Stille, dass Benjamin heftig zusammenzuckt. Die Arme steif von sich gestreckt, fängt er am ganzen Leib zu zittern an. Er wirft den Kopf in den Nacken und schreit, schreit sich in Todesangst die Seele aus dem Leib – ein sichtbarer, spürbarer, aber dem Anschein nach tonloser Schrei: Zu laut ist das Brüllen des Motors, zu nahe. Gleich hinter der Hecke steigt eine Schneefontäne auf.
    Der Lemming tritt an den Zaun, doch der Mann im gelbgrünen Anorak nimmt ihn nicht wahr. Der Lemming ruft und winkt, doch der Mann reagiert nicht. Der Lemming bückt sich, formt einen Schneeball und wirft. Die Kugel zerstiebt am Ärmel des Anoraks – jetzt blickt er auf, der gelbgrüne Mann. Er nickt dem Lemming zu und stellt den Motor ab.
    «Grüß Sie», sagt der Lemming.
    Eine Qualmwolke zieht durch die Gärten. Benjamin löst sich schluchzend aus seiner Erstarrung, windet sich in seinem Tragesack, will offensichtlich auf dem schnellsten Weg zurück ins Haus.
    «Grüß Gott, Herr Nachbar!» Ein fröhliches Lächeln. Dann eine stolze Gebärde, mit der er dem Lemming die rote Maschine präsentiert, die vor seinen Beinen im Schnee steht. «Da schauen S’ aber, gell? Ein ganz neues Baby, das Schneefräserl, heut erst gekauft. Acht Gänge und Zwei-Stufen-Schleudertechnik. Sie werden’s nicht glauben, wenn ich Ihnen verrat, was das Schatzi gekostet hat   …»
    «Wo?», unterbricht ihn freundlich-interessiert der Lemming.
    «Wo haben Sie es denn gekauft, das Schatzi?»
    «Beim Weilfurt, Sie wissen schon, der mit der Werbung   …»
    «Verstehe   … Passen ’S auf, ich mach Ihnen ein Angebot, Herr Nachbar.»
    «Ein Angebot? Wollen S’ vielleicht auch   …»
    «Nein, nein. Ich schlag Ihnen nur vor, Sie nehmen in aller Ruhe Ihr Fräserl und bringen’s zum Weilfurt zurück. Jetzt gleich, auf der Stelle. Weil sonst nehm’s nämlich ich, das nagelneue Fräserl, und fräs Ihnen ganz genüsslich den Arsch damit auf. Ich mach’s in der Nacht, wenn Sie nicht damit rechnen. Da komm ich zu Ihnen hinüber und fräs mich in Ihr Haus, in Ihr Zimmer, in Ihr Bett und direkt in Ihr nachbarliches Arschloch, tief hinein in die Gedärme. Auf der zweiten Schleuderstufe und im achten Gang   …»
     
    Der Lemming ist tot.
    Er hat seinen irdischen Körper verlassen und schwebt in den Himmel hinauf. Zu all den anderen Engeln da oben wahrscheinlich   …
    Der Lemming ist tot.
    Zurück bleibt Leopold Wallisch, ein Mann ohne Flügel, ein Mann ohne Sanftmut und Duldsamkeit. Zurück bleibt nichts als ein trotziger Mann, der bald heiraten wird.

31
    Sehr geehrter Herr Wallisch!
    Allem voran möchten wir Ihnen unsere herzlichsten Glückwünsche zur Vermählung übermitteln. Ihr Schreiben hat uns leider erst drei Tage nach dem Hochzeitsfest erreicht, sodass wir davon absehen mussten, Ihrer so liebenswürdigen Einladung Folge zu leisten. Schuld daran war einmal mehr die Post, wenn auch in anderer als der gewohnten Weise: Ihr Schreiben wurde zwar ordnungsgemäß zugestellt, doch war ich nicht in Wien, um es auch pünktlich in Empfang zu nehmen. Mein boxender
Briefträgernachbar (man kann also sagen, die Post) hat mich nämlich im heurigen Frühjahr
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