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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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oder gar aus ihnen herausgeronnen ist, so angereichert hat, dass ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr zu bestimmen ist.
    Der Lemming sitzt in einer Nische des
Café Dreher
, hat die Hände auf die marmorne Tischplatte gelegt und starrt aus dem Fenster. Zwei, drei Lastwagen fahren fast lautlos vorüber; dann hält einer und öffnet seinen schwarzen Bauch, um den Blick auf mehrere Stapel bunter Kisten freizugeben. Ein paar Männer mit schmalen, unrasierten Gesichtern beginnen abzuladen. In ihren Mundwinkeln stecken verloschene Zigaretten. Der Himmel ist grau, aber es regnet nicht.
    Der Lemming weint.
    Schon auf dem Herweg sind die Ameisen nach und nach aus seinen Gliedern gewichen und haben seinen Körper zurückgelassen wie einen schlaffen Sack. Jetzt gibt es nichts mehr, was ihn erfüllt, im Gegenteil: Die Leere in ihm ist größer als er selbst. Sie greift auf alles über, das seine Sinne berührt, legt sich dumpf auf den Duft nach gebratenem Speck, der aus der Küche dringt, auf die Stimmen der anderen Gäste, auf das erwachende Markttreiben jenseits der Straße, auf das Muster der Gardinen, auf die Stühle, auf die Tische. Alles ist nichts, denkt der Lemming, das Leben eine flagrante Verhöhnungseiner selbst, jedes Reden und Tun, Wachsen und Blühen, Hoffen und Bemühen ein einziger zynischer Witz. Es tut weh, diesen Witz zu verstehen, denkt der Lemming. Es tut weh, Mensch zu sein.
    Der Kellner bringt das Bier und das Gulasch und stellt es vor dem Lemming ab. Mag sein, dass er dessen rot geränderte Augen bemerkt, doch sieht er darüber hinweg, als sei er Tränen gewohnt. Wahrscheinlich ist er das auch. Der Lemming trinkt lustlos, mehr aus Reflex als des Durstes wegen.
    «Jetzt versalzt sie sich auch noch das Seidel, die Rotznudel, die verheulte. Da muss einem ja der Appetit vergehen   …»
    Die Stimme schneidet tief in die trüben Gedanken. Lauter als nötig schallt sie durch das Lokal, denn der Mann, dem sie gehört, sitzt gleich am Nebentisch. Er ist von hagerer Statur, kaum älter als dreißig, trägt halblanges, schütteres Haar und ein Stecktuch hinter dem weit geöffneten Hemdkragen. Aufrecht, fast steif sitzt er vor einer entkorkten Flasche Bourbon und sieht den Lemming ungerührt an.
    «Ja du, dich mein ich! Brauchst gar nicht so glotzen mit deinen Rehäugerln. Die Mama kommt eh gleich und stopft dir das Duttel ins Maul, damit eine Ruh ist   …»
    Normalerweise würde der Lemming diese jähe Attacke mit einem milden Kopfschütteln quittieren. Er würde dem Angreifer dann, zwar innerlich aufgewühlt, aber mit demonstrativer Geduld, den Rücken kehren. Es gibt eben solche Leute. Verbitterte Existenzen, die sich mit Vorliebe daran ergötzen, anderen Schmerz zu bereiten, sie zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Nicht selten verbindet sich ihr versteinertes Herz mit einem messerscharfen Verstand; das macht sie zu gerissenen Pirschgängern auf der Jagd nach dem Unglück. Es befriedigt sie nicht, lebenden Kleintieren die Haut abzuziehen oder die Flügel auszureißen. Ihr Sadismus ist selten handgreiflicher Natur. Sie suchen das seelische, das menschlicheLeid. Sie sind die Maden in der Wunde, die Pickel auf dem Arsch der Gesellschaft.
    Es gibt eben solche Leute. Aber diesmal ist es anders. Diesmal ist dem Lemming nicht nach stummer Resignation zumute, die sich schlecht und recht in das Mäntelchen nobler Zurückhaltung hüllt. Er hat alles verloren, und damit auch die wenigen Dinge, über denen er früher gestanden hat. Ja, es tut weh, Mensch zu sein, und der einzige Trost liegt darin, dass alle im selben schäbigen Boot sitzen. Ein abscheulicher Verräter, ein gottverfluchter Teufel, wer diesen ohnehin schon abgewrackten Kahn auch noch von innen leckschlägt, indem er die einfachsten Regeln des Humanismus missachtet.
    «Miese Drecksau.» Nicht gerade eine Meisterleistung an Schlagfertigkeit, doch als Essenz seiner Gedanken trifft die Replik des Lemming allemal den Punkt. Sein Tränenfluss ist in der Sekunde versiegt; das Bewusstsein der neugeborenen Feindschaft und das prickelnde Vorgefühl der Schlacht ersetzen mit einem Mal die innere Leere. Er erwidert den starren Blick des Mannes, und der Umstand, dass seine Augen immer noch feucht sind, erleichtert es ihm, sich jeglichen Zwinkerns zu enthalten.
    Der andere zieht mit gespieltem Erstaunen die Brauen hoch. «Ja, wer hat denn dem Burli so schlimme Wörter gelernt? Soll ich dir das Popscherl versohlen, du Schneebrunzer?» Nun reicht es dem Lemming.
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