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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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hat sich vor die ersten Sonnenstrahlen geschoben. Der Lemming muss sich wohl damit abfinden: Vom heutigen Morgenrot wird kaum mehr übrig bleiben als ein düsteres Morgengrauen.
    «Vergiss es   …»
    Er bückt sich und nimmt seinen Koffer, um wie ein geschlagener Hund das Weite zu suchen. Wie ein geschlagener Hund   …
    «Sag, wo ist eigentlich Castro?»
    Wann immer er vor Klara Breitners Tür gestanden hat, ist ihm der Leonberger als Erster entgegengestürmt, hat ihm den Schweiß der Beklommenheit von den Händen gelecktund mit seinem freudig wedelnden Schwanz die dickste Luft in ein frisches Lüftchen verwandelt. Das ist es, was ihm fehlt. Jemand, der sich freut, ihn zu sehen, auch wenn es nur ein Hund ist.
    «Wo ist er?»
    «Im Haus. Warum?»
    «Ist er krank?», fragt der Lemming, ehrlich bestürzt.
    «Nein, ich musste ihn wegsperren. Er verträgt sich nicht mit   …» Klara hält inne.
    «Mit wem?»
    Es bedürfte Klaras betretenen Schweigens gar nicht. Ihr Blick glimmt wie eine feuchte Lunte, indessen der Sprengsatz sich selbst entzündet. An der Schnittstelle zwischen Magen, Herz und Kopf, zwischen Angst, Ahnung und Gewissheit implodiert das Vakuum der Eifersucht mit einem dumpfen, nur für den Lemming hörbaren Ton. Aus einem klaffenden Riss in seiner Mitte ergießen sich unverzüglich die Ameisen. Es müssen Hunderttausende sein. Zusammengenommen scheint ihre Masse exakt seinem Körpervolumen zu entsprechen. Das ist interessant. Der Lemming denkt eine Weile darüber nach, während die Tiere durch seine Glieder strömen, um die Kontrolle seiner Muskeln zu übernehmen. Klara sagt etwas, aber der Lemming hört es nicht. Er ist jetzt nach innen gestülpt, ein finsteres Loch, bis zum Rand gefüllt mit kribbelnden schwarzen Insekten.
    Der Koffer bleibt stehen. Der Lemming geht, und er geht mit sonderbar weichen, ferngesteuerten Knien. So fühlt sich also ein Ameisenhaufen an: vollkommen tot und doch in Bewegung.

2
    Wenn Österreichs gegen das Meer gestreckte Arme auch im Laufe der Zeit amputiert wurden und die einstige Seemacht zur Spielwiese der Badewannenkapitäne verkommen ist, besitzt ihre Hauptstadt Wien nach wie vor einen höchst bedeutsamen Küstenstrich. Als Strand ohne Wasser, als rein metaphorisch maritimer Streifen erstreckt er sich nur über wenige hundert Meter und reicht dennoch von Varna bis Valletta, von Triest bis Tripolis. Ein Spaziergang auf dem Naschmarkt ist eine Reise um die halbe Welt, eine babylonische Irrfahrt für die Ohren und eine olfaktorische Odyssee. Die Menschenflut, die tagsüber zwischen den Buden mit Lammfleisch und Fisch, mit exotischen Früchten und fremden, nie geschmeckten Gewürzen wogt, weicht der Ebbe am Abend. Wenn die Läden dichtgemacht und die am Boden zertretenen Reste der manch ungeschickter Hand entglittenen Tomaten, Melonen, Auberginen und Kardonen in den Rinnstein gespült sind, zieht sich das Leben vom Naschmarkt zurück. Aber nicht lange, da kehrt es wieder, auf leisen Sohlen diesmal, kehrt sinistrer und abgründiger wieder als das lärmende Tagewerk der feilschenden Hausfrauen und prüfenden Köche, der staunenden Touristen und der laut ihre Waren preisenden Levantiner. Wenn die Nacht hereinbricht, wird das menschliche Treibgut der ganzen Stadt an die Gestade des Marktes geschwemmt und dümpelt bis zum nächsten Morgen in den umliegenden Buchten vor sich hin. Lokale gibt es viele an der Wienzeile. Es sind kleine Wirts- und Kaffeehäuser, so schwach beleuchtet wie stark besucht, deren Öffnungszeiten von jeher in antipodischem Verhältnis zu den honorigen Idealen gutbürgerlichen Lebenswandels stehen. Schnapsdrosseln und Schluckspechte bauen hier ihre schwankenden Nester, Pflastermaler und Stadtstreicher finden ihre verlorenen Perspektiven wieder, und soziale Nichtschwimmer fühlen den ersehnten Boden unter den Füßen,ohne deshalb auf dem Trockenen zu sitzen. Es wird getrunken, sinniert, gestritten, gejammert und wieder getrunken, bis die ungeliebte Sonne aufgeht und die Bourgeoisie draußen zur Arbeit treibt. Zeit für den Ausklang, Zeit für das klassische Frühstück, bevor man selbst in den Tag taucht, um sich irgendwo schlafen zu legen.
    «Ein Gulasch und ein Seidel», murmelt der Lemming.
    «Ein bisserl lauter, der Herr, wenn’s recht ist!»
    «Ein Gulasch. Und ein Seidel. Bitte!»
    Der Ober nickt müde und entfleucht. An seiner Seite schlenkert schlaff eine Stoffserviette, die sich mit allem, was die Nacht hindurch an den Kehlen der Gäste vorbei-
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