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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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Vier Wochen ist es her, dass Klara ihm die Stellung im Zoo verschafft hat, in dem sie zuweilen auch selbst beschäftigt ist. Er hat den Job nur widerwillig angenommen, denn er ahnte, dass es sein angekratztes Selbstgefühl noch weiter untergraben würde, sich auf die nächtliche Jagd nach frechen Lausbuben und besoffenen Stadtstreichern begeben zu müssen, flankiert von nackten Nilpferd- und Pavianärschen, während seine Freundin tagsüber Spritzen und Klistiere in nämliche Ärsche versenkte – unter den adorierenden Blicken der Pfleger und für das zehnfache Gehalt, versteht sich. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen und tat es auch nicht. Wie ein Virus ins geschwächte Immunsystem nistete sich die Eifersucht in das kränkelnde Ego des Lemming ein und fraß sich dort in Gestalt des Raubtieroberpflegers fest. Ein strohblonder Recke mit makellos weißem Gebiss, stahlblauen Augen und dem sauberen Humor eines Turnvater-Jahn-Epigonen.
    «Wenn einer schon Rolf heißt», murmelt der Lemming im Fond des Taxis.
    «Was willst du damit andeuten?», vernimmt er im Geiste Klaras Erwiderung.
    «Sag bloß, es ist dir entgangen.»
    «Was?»
    «Dass er dir am liebsten sofort seine arische Rute zwischen die Hinterläufe schieben möchte.»
    «Ach. Und wie kommst du darauf?»
    «Du merkst also nicht, dass er dich ansieht wie   … wie heißt das in eurer Schönbrunner Safarisprache? Brunftig? Läufig? Rollig?»
    So oder so ähnlich hat der Streit vor drei Wochen begonnen, und er ist zu einem hitzigen Monolog des Lemming ausgeartet, den Klara nur mit verächtlichem Kopfschütteln quittierte. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen ihnen – während ervergeblich auf ein klärendes Wort von ihr wartete, zog sie sich schweigend von ihm zurück.
    So gesehen kommt ihm die plötzliche Obdachlosigkeit ganz gelegen. Seine Notlage bietet ihm die Chance, Klara aufzusuchen, Asyl zu beantragen und das gestockte Gespräch vielleicht wieder in Gang zu bringen.
    Kurz nach fünf hält der Wagen vor dem Breitner’schen Haus in Ottakring. Hier wohnen sie also, Castro und Klara, und manchmal auch deren jüngerer Bruder Max, falls er sich nicht gerade auf einer seiner dubiosen Geschäftsreisen in Ländern mit gesteigerter Cannabisproduktion befindet. Der Lemming zahlt, steigt aus und stapft den Kiesweg entlang durch den verwilderten Garten. Über ihm, in den Kronen der Obstbäume, schmettern zahllose Vögel ihre Morgenlieder. Sie kommen dem Lemming vor wie ein Haufen gefiederter Missionare, deren hehres Ziel es ist, ihn, den Unbeschwingten, mit ihrem grenzenlosen Frohsinn anzustecken.
    Es dauert lange, bis Klara öffnet. Dreimal muss der Lemming klingeln, doch dann dreht sich endlich der Schlüssel im Schloss, und sie steht, knittrig und zerzaust, vor ihm.
    «Ach   … du bist es. Ist dir klar, wie spät es ist?» Ihr bettschwerer Blick streift den Lederkoffer, der zu Füßen des Lemming steht, flackert argwöhnisch auf, erstarrt und beißt sich an dem unschuldigen Gepäckstück fest.
    «Was willst du?», fragt sie, leicht angespannt.
    «Ich   … ich kann nichts dafür   … Ich meine, ich wollte nur fragen, ob   …»
    «Wieso bist du nicht im Dienst?»
    «Nein   … nicht heute Nacht   … Ich habe mich eigentlich   … krankgemeldet   …»
    «Und? Was fehlt dir?»
    «Also im Grunde   … hör zu, ich wollte mich einfach mal ausschlafen.»
    «Und das wolltest du offenbar hier tun – und die Zahnbürste hast du gleich mitgebracht   …»
    «Nein   … Ja   … Es ist nur, weil   …»
    «Ist dir klar, dass ich in zwei Stunden zur Arbeit muss? Ich kann’s mir nämlich nicht so einfach leisten blauzumachen.»
    «Ja, aber ich dachte, ich könnte inzwischen   …»
    «Hier einziehen? – Hast du den Möbeltransport auch schon organisiert?»
    «Vergiss es   …»
    So kann das nichts werden. So nicht, das ist klar. Der Lemming spürt die Wut in sich aufsteigen, Wut auf sich selbst zunächst: dass er sich abermals einschüchtern lässt. Dass er schon wieder nicht in der Lage ist, richtige Worte zu finden, Worte von unwiderlegbarer Deutlichkeit, wie sie ihm noch vor fünf Minuten auf der Zunge gelegen haben. Dass es einmal mehr von Klaras Freundlichkeit abhängt, ob sich sein Geist versprüht oder verweigert.
    Aber sein Zorn gilt auch ihr. Er mag ja seine Fehler haben, doch eine Abfuhr dieses Kalibers hat er nicht verdient. Die eisige Kälte, die ihm von Klara entgegenschlägt, scheint sogar die Vögel verstummen zu lassen – eine Wolkenbank
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