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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift
Autoren: Greg Iles
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nicht, und das war für sich genommen ungewöhnlich. Chris hatte eine große Praxis, doch es war eine kleine Stadt, und es gefiel ihm so, wie es war.
    Der Name der Patientin war Alexandra Morse, und ihre Akte enthielt lediglich eine medizinische Geschichte – die lange Form, wie sie alle neuen Patienten bei ihrem ersten Besuch ausfüllen mussten. Chris blickte den Korridor entlang und sah seine Sprechstundenhilfe Holly von ihrer Station ins Röntgenzimmer gehen. Er rief ihr hinterher und winkte sie zu sich. Sie sagte irgendetwas in das Zimmer; dann eilte sie herbei.
    »Kommen Sie nicht mit ins Behandlungszimmer?«, fragte er leise. »Es ist eine Patientin.«
    Holly schüttelte den Kopf. »Sie hat gebeten, allein mit Ihnen zu reden.«
    »Eine neue Patientin?«
    »Ja. Ich wollte schon vorher etwas sagen, aber wir haben mit Mr. Seward so viel zu tun …«
    Chris nickte an der Tür und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Was hat sie für ein Problem?«
    Holly zuckte die Schultern. »Wenn ich das wüsste. Ihr Name ist Alex. Sie ist dreißig Jahre alt und in Topform, sieht man von den Narben im Gesicht ab.«
    »Narben?«
    »Auf der rechten Seite. Wange, Ohr, Augenbereich … Mit dem Kopf durch eine Scheibe, wenn ich raten soll.«
    »In ihrer Akte steht nichts von einem Autounfall.«
    »Nach der Farbe der Narben zu urteilen, liegt die Sache erst ein paar Monate zurück.«
    Chris entfernte sich von der Tür, und Holly folgte ihm. »Sie hat keine Beschwerden genannt?«
    Die Sprechstundenhilfe schüttelte den Kopf. »Nein. Und Sie wissen, dass ich gefragt habe.«
    »Oh Mann.«
    Holly nickte wissend. Eine Frau, die allein in die Sprechstunde kam und sich weigerte, mit jemand anderem als dem Arzt über ihre Beschwerden zu sprechen, bedeutete in der Regel, dass es sich um ein sexuelles Problem handelte, meist eine Geschlechtskrankheit oder die Angst vor einer möglichen Ansteckung. Natchez, Mississippi, war eine kleine Stadt, und die Sprechstundenhilfen schwatzten genauso viel und gern wie die restliche Einwohnerschaft. Und die meisten Ärzte in dieser Stadt sind noch schlimmere Klatschbasen als ihre Angestellten, sinnierte Chris.
    »Auf ihrer Karte steht, sie kommt aus Charlotte, North Carolina«, bemerkte er. »Hat sie Ihnen erzählt, was sie in Natchez macht?«
    »Sie hat mir überhaupt nichts erzählt, Doc«, antwortete Holly mit einer Andeutung von Pikiertheit. »Möchten Sie jetzt, dass ich die Röntgenserie von Mr. Sewards Unterleib schieße, bevor er sich auf dem Tisch entleert?«
    »Entschuldigung. Machen Sie weiter.«
    Holly zwinkerte ihm zu. »Viel Vergnügen mit Miss Scarface.«
    Chris schüttelte den Kopf, machte eine ernste Miene und betrat das Untersuchungszimmer.
    Eine Frau in einem navyblauen Rock und einem cremefarbenen Top stand neben der Untersuchungsliege. Beim Anblick ihres Gesichts zuckte Chris zusammen, obwohl er im Verlauf seiner medizinischen Ausbildung viele ähnliche Verletzungen gesehen hatte. Die Narben der Frau waren nicht allzu schlimm. Es waren ihre Jugend und ihre Attraktivität, die sie so hervortreten ließen.
    »Hallo, Dr. Shepard«, sagte die Frau und blickte ihn an.
    »Miss Morse?«, erwiderte er und erinnerte sich daran, dass sie ihrer Akte zufolge unverheiratet war.
    Sie lächelte ihn freundlich an, doch sonst sagte sie nichts.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Chris.
    Die Frau schwieg weiter, doch er spürte, wie sie ihn eingehend musterte. Chris studierte die Frau seinerseits, während er versuchte, den Grund ihres Kommens zu erraten. Sie besaß dunkles Haar, grüne Augen und ein ovales Gesicht, das sich nicht sehr von dem Dutzender anderer Frauen unterschied, die er Tag für Tag in seiner Praxis sah. Eine etwas bessere Knochenstruktur vielleicht, insbesondere die Wangenknochen. Doch der eigentliche, der wirkliche Unterschied waren die Narben – und eine Strähne grauer Haare direkt darüber, die nicht so aussah, als wäre sie gefärbt. Ansonsten sah Alex Morse wie jeder, andere junge Frau im einheimischen Fitnessstudio aus. Dennoch gab es irgendetwas an ihr, das Chris nicht genau zu beschreiben vermochte, etwas, das sie von anderen Frauen unterschied. Vielleicht war es die Art und Weise, wie sie vor ihm stand.
    Er legte die Akte hinter sich auf den Tisch. »Vielleicht sollten Sie mir einfach erzählen, was für ein Problem Sie haben«, begann er. »Ganz gleich, wie erschreckend es Ihnen erscheinen mag – ich verspreche Ihnen, ich habe es in dieser Praxis schon viele Mal
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