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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift
Autoren: Greg Iles
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Kandidatin für die Heiligsprechung, wenn es je eine gegeben hatte. Die Ironie war grausam: Heute Nacht war es Grace, die auf einer Intensivstation lag und um ihr Leben kämpfte.
    Und warum? Sicherlich nicht Karma. Sie war die Treppen eines Stadions hinaufgestiegen, um ihrem zehn Jahre alten Sohn beim Baseball zuzuschauen, als sie zusammengebrochen war. Sekunden nachdem sie auf der Treppe aufgeschlagen war, hatte sie Blase und Darm entleert. Eine vierzig Minuten später aufgenommene Computertomographie zeigte ein Blutgerinnsel in der Nähe des Hirnstamms – die Sorte von Blutgerinnsel, die Menschen nur allzu oft umbringt. Alex war in Charlotte gewesen und hatte Bahnen geschwommen, als die Nachricht gekommen war. (Alex war nach der Schießerei dorthin strafversetzt worden.) Ihre Mutter war zu aufgeregt gewesen, um am Telefon zusammenhängende Sätze von sich zu geben, doch sie hatte genügend Einzelheiten gestammelt, um Alex zum Flughafen jagen zu lassen.
    Bei der ersten Zwischenlandung in Atlanta hatte Alex den Mann ihrer Schwester angerufen, Bill Fennell, den sie vor dem Start nicht hatte erreichen können. Bill erklärte, dass Graces Hirnschäden zunächst nicht allzu dramatisch ausgesehen hätten – leichte Lähmung der rechten Seite, Schwäche, milde Dysphasie –, doch der Schlaganfall hatte sich seither verschlimmert, was nach Auskunft der Ärzte nicht ungewöhnlich war. Ein Neurologe hatte Grace TPA verordnet, ein Medikament, das Blutgerinnsel auflösen konnte, jedoch allerlei ernste Nebenwirkungen hatte. Bill Fennell war ein dominanter Mann, doch seine Stimme hatte gezittert bei ihrem Gespräch, und er hatte Alex angefleht, sich zu beeilen.
    Nachdem das Flugzeug in Jackson gelandet war, hatte Alex erneut bei ihm angerufen. Diesmal hatte er schluchzend über die Entwicklung der vergangenen Stunde berichtet. Grace atmete zwar noch aus eigener Kraft, doch sie war ins Koma gefallen und würde möglicherweise sterben, noch ehe Alex die letzten fünfundzwanzig Kilometer vom Flughafen zum Krankenhaus zurückgelegt hatte.
    Panik erfüllte mit einem Mal ihre Brust, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Obwohl das Flugzeug noch auf dem Vorfeld war und zum Terminal rollte, hatte Alex ihre Tasche unter dem Sitz hervorgezogen und war nach vorn zum Ausgang der B-727 marschiert. Als ein Flugbegleiter ihr den Weg versperrte, hatte sie ihren Dienstausweis gezückt und ihm mit leiser Stimme befohlen, sie so schnell wie möglich zum Terminal zu bringen. Kaum hatte sie das Gate passiert, war sie durch die Abfertigungshalle und die Gepäckausgabe zu der Schlange wartender Taxis gesprintet, wo sie erneut ihren Ausweis gezückt und dem Fahrer hundert Dollar versprochen hatte, wenn er sie mit Höchstgeschwindigkeit zur Uniklinik brachte.
    Und hier war sie nun, stieg im dritten Stock aus dem Lift und wurde sogleich eingehüllt von beißenden Gerüchen, die sie Wochen in die Vergangenheit zurückwarfen, als heißes Blut wie aus einem Wasserhahn aus ihrem Gesicht geströmt war. Am Ende des Korridors wartete eine große Holztür mit der Aufschrift »Neurologische Intensivstation«. Sie ging hindurch wie ein Fallschirmspringer vor seinem ersten Absprung, wappnete sich gegen den freien Fall, voller Angst vor den Worten, die zu hören sie beinahe sicher war: Es tut mir sehr leid, Alex, aber du kommst zu spät.
    Die Intensivstation bestand aus einem Dutzend Abteilen mit Glaswänden, U-förmig um das Schwesternzimmer herum angeordnet. Mehrere Abteile waren mit Vorhängen vor Blicken geschützt, doch durch die transparente Wand der vierten Kabine links sah Alex Bill Fennell, der sich mit einer Schwester unterhielt. Mit seinen einsdreiundneunzig überragte er sie deutlich, doch sein attraktives Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht, und die Frau schien ihn zu trösten. Er spürte Alex’ Anwesenheit, blickte auf und erstarrte mitten im Satz. Alex bewegte sich zu dem Abteil. Bill stürzte zur Tür und drückte Alex an sich. Es war ihr immer peinlich gewesen, ihren Schwager zu umarmen, doch heute Nacht gab es keine Möglichkeit, dies zu vermeiden. Und auch keinen Grund. Heute Nacht brauchten beide Nähe und das Gefühl familiärer Zusammengehörigkeit.
    »Du hast wohl einen Hubschrauber genommen!«, sagte er mit seiner vollen Bassstimme. »Ich kann nicht glauben, wie schnell du gekommen bist!«
    »Lebt sie?«
    »Sie lebt noch«, sagte Bill in eigenartig förmlichem Tonfall. »Sie hat sogar ein paar Mal das Bewusstsein
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