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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift
Autoren: Greg Iles
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Blutdruck, Gott weiß was sonst noch. Ein einzelner intravenöser Tropf verschwand unter einem Verband an ihrem Unterarm. Bei dem Anblick schmerzte es in Alex Handgelenk. Sie war nicht sicher, was sie tun sollte, und vielleicht spielte es auch gar keine Rolle. Vielleicht war es einfach nur wichtig, dass sie hier war, in diesem Zimmer.
    »Weißt du, was diese Tragödie mir klargemacht hat?«, fragte die vertraute Bassstimme.
    Alex zuckte zusammen, doch sie bemühte sich, ihr Unbehagen zu verbergen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Bill mit ihr im Raum war, und sie hasste es, ein Zeichen von Schwäche zu zeigen. »Was denn?«, fragte sie, obwohl es sie im Grunde gar nicht interessierte.
    »Geld ist nichts wert. Überhaupt nichts. Alles Geld der Welt kann dieses Blutgerinnsel nicht aus ihrem Kopf holen.«
    Alex nickte geistesabwesend.
    »Wofür zur Hölle habe ich dann gearbeitet?«, fragte Bill. »Warum habe ich es nicht langsamer angehen lassen und jede freie Minute mit Grace verbracht?«
    Grace hat sich diese Frage wahrscheinlich tausendmal gestellt, dachte Alex. Doch es war zu spät für Reue. Viele Menschen hielten Bill für so kalt wie einen Fisch. Alex hatte eher geglaubt, dass er dazu neigte, weinerlich zu reagieren.
    »Könnte ich für ein bisschen mit ihr alleine sein?«, fragte sie, ohne den Blick von Graces Gesicht abzuwenden.
    Sie spürte, wie sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte – die verwundete Schulter. Dann sagte Bill: »Ich bin in fünf Minuten zurück.«
    Nachdem er gegangen war, nahm Alex die klamme Hand ihrer Schwester in die ihre und beugte sich vor, um Graces Stirn zu küssen. Sie hatte ihre Schwester noch nie so hilflos gesehen. Tatsächlich hatte sie Grace noch nie auch nur annähernd hilflos gesehen. Grace war ein Dynamo. Krisen, die das Leben anderer zum Stillstand brachten, ließen sie kaum das Tempo verlangsamen. Doch dies hier war anders. Dies war das Ende – Alex konnte es spüren. Sie wusste es, wie sie es gewusst hatte, nachdem James Broadbent getroffen zu Boden gegangen war. James hatte gesehen, wie Alex Sekunden vor dem Zugriffsbefehl für das Geiselbefreiungsteam in die Bank gestürmt war, und er war ihr auf dem Fuß gefolgt. Er hatte gesehen, wie sie angeschossen wurde, doch anstatt das Feuer auf den Schützen augenblicklich zu erwidern, hatte er nach unten geblickt, um zu sehen, wie schlimm Alex verwundet worden war – und hatte die nächste Ladung voll in die Brust bekommen. Er hatte keine Weste getragen (er hatte sie ausgezogen, als er gehört hatte, dass das Geiselbefreiungsteam die Bank stürmen würde). Die Schrotkugeln hatten sein Herz und seine Lungen zerfetzt.
    Warum hat er nur zu mir nach unten gesehen?, fragte Alex sich zum Millionsten Mal. Warum ist er mir in die Bank gefolgt?
    Doch sie kannte die Antwort. Broadbent war ihr gefolgt, weil er sie geliebt hatte – aus der Ferne zwar, doch seine Gefühle waren dennoch echt gewesen. Und diese Liebe hatte ihn das Leben gekostet. Alex sah Tränen auf Graces Wangen tropfen – ihre eigenen Tränen, zahllos in diesen vergangenen Monaten. Sie wischte sich über die Augen, zog ihr Handy hervor und wählte die Nummer von Bill Fennell, der keine zehn Meter entfernt stand.
    »Was ist?«, fragte er aufgeregt. »Was ist passiert?«
    »Jamie sollte hier sein, Bill.«
    »Alex, ich habe dir gesagt …«
    »Geh ihn holen, verdammt! Die Frau hier drin ist seine Mutter!«
    Eine lange Pause entstand. Schließlich sagte Bill: »Ich rufe meine Schwester an.«
    Alex drehte sich um und sah ihn neben der Schwesternstation stehen. Er hatte sich mit Dr. Andrews unterhalten. Sie sah, wie er das Gespräch mit der Neurologin unterbrach und sein Mobiltelefon an die Wange hob. Alex beugte sich über Graces Ohr und überlegte verzweifelt, was sie sagen konnte, das den Grund des tiefen Loches zu erreichen vermochte, in dem ihre Schwester jetzt weilte.
    »Grace?«, flüsterte sie, während sie zugleich die kalte Hand drückte. »Ich bin es, KK.«
    Graces Augen blieben geschlossen.
    »Ich bin es … KK ist hier. Ich bin von Sally zurück. Wach auf, bevor Mama aufsteht. Ich möchte zum Fest!«
    Sekunden verrannen. Erinnerungen wirbelten durch Alex’ Gedanken, und ihr Herz begann zu schmerzen. Graces Augen blieben geschlossen.
    »Komm schon, Grace! Ich weiß, dass du nur so tust, als würdest du schlafen! Hör auf damit!«
    Alex spürte ein Zucken in ihrer Hand. Adrenalin schoss in ihre Adern, doch als sie die erstarrten Augenlider sah, nahm
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