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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift
Autoren: Greg Iles
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wiedererlangt. Sie hat nach dir gefragt.«
    Alex’ Zuversicht stieg, doch mit der Hoffnung kamen neue Tränen.
    Die Frau im weißen Kittel kam aus dem Abteil. Sie war um die fünfzig, mit einem freundlichen, jedoch ernsten Gesicht.
    »Das ist die für Grace zuständige Neurologin«, sagte Bill.
    »Ich bin Meredith Andrews«, stellte die Ärztin sich vor. »Sind Sie die Frau, die Grace ›KK‹ nennt?«
    Alex schluchzte auf. »KK« war ein Spitzname, der von ihrem zweiten Namen abgeleitet war, Karoli. »Ja. Aber nennen Sie mich bitte Alex … Alex Morse.«
    »Spezialagentin Morse«, sagte Bill in einem völlig absurden Einwurf.
    »Hat Grace nach mir gefragt?«, erkundigte sich Alex, wobei sie sich die Wangen abwischte.
    »Sie sind alles, worüber sie redet.«
    »Ist sie bei Bewusstsein?«
    »Zurzeit nicht. Wir tun, was in unserer Macht steht, doch Sie sollten sich auf das Schlimmste …« Dr. Andrews schätzte Alex blitzschnell ab. »Sie sollten sich auf das Schlimmste gefasst machen. Grace hatte eine schwere Thrombose, als sie eingeliefert wurde, doch sie hat noch aus eigener Kraft geatmet, was mich zunächst mit Hoffnung erfüllt hat. Doch der Anfall breitete sich ständig weiter aus, und ich beschloss, mit der thrombolytischen Therapie zu beginnen, das heißt, wir versuchen, das Gerinnsel aufzulösen. Manchmal wirkt es Wunder, doch es kann auch zu Hämorrhagien an anderen Stellen im Körper oder im Gehirn führen. Ich habe das Gefühl, dass genau dies im Augenblick geschieht. Ich möchte nicht riskieren, Grace für eine Magnetresonanzspektroskopie zu bewegen. Sie atmet noch immer aus eigener Kraft, und das ist die beste Hoffnung, die wir haben. Wenn sie aufhört zu atmen, stehen wir bereit, sie augenblicklich zu intubieren. Ich hätte es vielleicht schon tun sollen«, sie warf einen Seitenblick zu Bill, »doch ich weiß, dass sie unbedingt mit Ihnen reden will, und sobald sie intubiert ist, kann sie nicht mehr sprechen, mit niemandem. Sie hat bereits die Fähigkeit zu schreiben verloren.«
    Alex zuckte zusammen.
    »Seien Sie nicht schockiert, wenn Sie zu Ihnen spricht. Ihr Sprachzentrum hat gelitten, und sie ist stark beeinträchtigt.«
    »Verstehe«, sagte Alex ungeduldig. »Wir haben einen Onkel, der einen Schlaganfall hatte. Kann ich einfach zu ihr? Es ist mir egal, in welchem Zustand sie ist. Ich möchte bei ihr sein.«
    Dr. Andrews lächelte und führte Alex in das Abteil.
    An der Tür angekommen, drehte Alex sich zu Bill um. »Wo ist Jamie?«
    »Bei meiner Schwester in Ridgeland.«
    Ridgeland war eine rein weiße Vorstadt zehn Meilen außerhalb. »Hat er gesehen, wie seine Mutter gefallen ist?«
    Bill schüttelte ernst den Kopf. »Nein. Er war unten auf dem Spielfeld. Er weiß lediglich, dass seine Mutter krank ist.«
    »Meinst du nicht, dass er hier sein sollte?«
    Alex bemühte sich angestrengt, jegliches Urteil aus ihrer Stimme herauszuhalten, doch Bills Miene verdüsterte sich. Ihm schien eine scharfe Entgegnung auf der Zunge zu liegen, dann aber holte er nur tief Luft. »Nein, das denke ich nicht«, sagte er.
    Als Alex ihn unverwandt anstarrte, senkte er die Stimme und fügte hinzu: »Ich möchte nicht, dass Jamie zusieht, wie seine Mutter stirbt.«
    »Selbstverständlich nicht. Aber er sollte eine Chance haben, Lebewohl zu sagen.«
    »Die bekommt er«, erwiderte Bill. »Bei ihrer Beerdigung.«
    Alex schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. »Bill, du kannst nicht …«
    »Wir haben jetzt keine Zeit dafür«, unterbrach er sie und nickte in Richtung der Ärztin, die wartend im Abteil stand.
    Alex näherte sich langsam der Bettkante. Das blasse Gesicht ihrer Schwester über der Krankenhausdecke sah fremd aus. Fremd und doch nicht fremd. Es erinnerte Alex an das Gesicht ihrer Mutter. Grace Morse-Fennell war fünfunddreißig Jahre alt, doch heute Nacht sah sie aus wie siebzig. Es ist die Haut, wurde Alex bewusst. Sie ist wie Wachs. Schmelzendes, verlaufendes Wachs. Es sah aus, als wären die Muskeln ihrer Schwester erschlafft und würden niemals wieder kontrahieren. Grace hatte die Augen geschlossen, und zu Alex Überraschung empfand sie es als Erleichterung. Es verschaffte ihr Zeit, sich an die neue Realität zu gewöhnen, wie flüchtig und unwirklich sie sein mochte.
    »Wird es gehen?«, fragte Dr. Andrews hinter ihr.
    »Ja.«
    »Dann lasse ich Sie jetzt mit ihr allein.«
    Alex warf einen flüchtigen Blick auf die Monitore, die Graces Lebensfunktionen überwachten. Pulsschlag, Sauerstoffaufnahme,
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