Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift
Autoren: Greg Iles
Vom Netzwerk:
Wasser.
    »Versuchen Sie mal, ihn jetzt noch zu retten«, höhnte Tarver.
    Alex konnte Jamie nicht sehen, doch es sah nicht danach aus, als wehrte er sich. Tarver drückte ihn so leicht unter Wasser wie einen Säugling. Alex überlegte, den Schraubendreher zu ziehen, doch das war keine Lösung. Sie war Tarver in einem offenen Kampf nicht gewachsen.
    Die Antwort kam ihr mit der Wucht einer Offenbarung. Sie tauchte nach unten, während die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf erklang. Wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst, tu das Unerwartete. Nur so bleibst du am Leben. Sie tauchte tiefer, bis sie drei Meter unter der Wasseroberfläche war. Dann öffnete sie die Augen und sah nach oben, doch außer einem undeutlichen Schatten war vor dem grauen Hintergrund nichts zu erkennen. Während sie langsam in die Höhe schwebte, glitt ein dunkler, schlanker Schemen an ihr vorbei. Sie streckte die Hand aus und packte ihn.
    Es war ein Knöchel – der glatte, dünne Knöchel eines Jungen.
    Alex wusste, dass Tarver gewappnet war für den Kampf. Sie stieß die Luft aus und riss den Knöchel kräftig nach unten; dann schwamm sie mit aller Kraft tiefer. Zu ihrer Freude spürte sie, dass Jamies regloser Leib mit ihr kam. Nach ein paar Schwimmstößen ging sie in die Waagerechte und zog den Jungen mit sich, doch ihre Luft ging nun rasch zu Ende. Sie musste auftauchen. Als sie nach oben stieg, sah sie über sich ein Spritzen und einen schwarzen Schatten, der auf sie zukam, wobei er Luftblasen hinter sich her zog. Sie packte Jamies Knöchel mit der linken Hand, zog den Schraubendreher aus ihrem improvisierten Verband und wartete.
    Als der Schatten nach ihr griff, paddelte sie nach oben und stieß mit der Kraft der Verzweiflung zu.
    Sie traf irgendetwas, doch der Schatten hielt nicht inne. Eine starke Hand packte ihre Kehle. Alex holte zur Seite aus und stieß ein weiteres Mal zu. Eine Explosion von Luftblasen hüllte sie ein. Tarvers großer Leib zuckte und wand sich wie ein verwundeter Hai. Er ließ ihren Hals los. Hoffnung durchflutete Alex und drängte sie, ihm den endgültigen Stoß zu versetzen. Sie zerrte am Griff ihrer improvisierten Waffe, doch der Schraubendreher saß fest.
    Aus Angst, Jamie zu verlieren, ließ sie den Griff los und versuchte sich von Tarver zu entfernen, doch jetzt war ihre Luft restlos aufgebraucht. Mit brennenden Lungen packte sie Jamie unter den Achselhöhlen und strampelte dem grauen Tageslicht entgegen.
    Sie durchbrach die Wellen und sah das Boot fünfzehn Meter entfernt auf dem Wasser tanzen. Sie packte Jamie in einem Rettungsgriff, als Tarver direkt vor ihr auftauchte. Seine Augen funkelten wie die eines Wahnsinnigen, und sein Mund war schlaff und verzerrt.
    Alex wusste nicht, wie sie gleichzeitig Jamie halten und gegen Tarver kämpfen sollte, noch hatte sie die Kraft dafür. Doch als Tarvers Hand aus dem Wasser kam, streckte er sie nicht nach Alex aus. Die Hand war offen, und sie bewegte sich zur Seite seines Kopfes, als suchte sie nach einer Wunde.
    Alex und Tarver begriffen gleichzeitig und voller Entsetzen, was geschehen war: Der Griff des Schraubendrehers ragte aus Tarvers linkem Ohr. Die Metallklinge steckte bis zum Heft in seinem Kopf.
    Tarvers Augen weiteten sich, als er die Hand um den Griff schloss. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wollte er den Schraubendreher herausreißen; dann überkam Wissen den Instinkt. Er ließ die Hand sinken, wandte sich ab und schwamm mit einem letzten irren Blick auf Alex schwerfällig in Richtung des Bootes davon.
    Alex drehte sich im Wasser und schwamm zur Insel. Sie war vielleicht fünfzig oder sechzig Meter entfernt und wäre unter normalen Umständen leicht zu erreichen gewesen, doch jetzt war die Strecke möglicherweise tödlich. Alex’ Lungen brannten, und ihre Sicht war verschwommen. Offenbar hatte sie viel mehr Blut verloren, als sie zunächst befürchtet hatte. Trotzdem schwamm sie unentwegt weiter durch die anbrandenden Wellen. Noch vierzig Meter. Dreißig. Ihre bleiernen Gliedmaßen gehorchten ihr kaum noch. Jamies Gesicht war blau angelaufen. Alex mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nur noch ein paar Meter vom Ufer entfernt war.
    Vor ihrem geistigen Auge erschien ein Bild von Grace, dann von ihrem Vater, und schließlich von ihrer Mutter. Wir sind die Letzten, dachte sie hilflos. Jamie und ich.
    Sie versuchte zu schwimmen, hatte aber keine Reserven mehr. Sie küsste Jamies Wange und betete um die Kraft, seinen Kopf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher