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Leise weht der Wind der Vergangenheit

Leise weht der Wind der Vergangenheit

Titel: Leise weht der Wind der Vergangenheit
Autoren: Sarit Graham
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hoffentlich nicht erwarten, dass ich schwimmen lerne?“
       Mary lachte gekünstelt auf. „Warum solltest du?“, fragte sie leichthin, obwohl ihr Tränen in die Augen stiegen bei dem Gedanken an die Zukunft, die für ihre kleine Schwester schon fast vorbei war. „Kein Mitglied unserer Familie konnte je schwimmen, soweit ich weiß. Also werden wir beide die Tradition gewiss nicht brechen.“
       „Dort vorne ist ein kleiner Ort", stellte Anne in diesem Moment erfreut fest. „Ist das vielleicht schon Ronaldsburgh? Ich habe, ehrlich gestanden, die Fahrerei satt." Sie neigte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. „Hier würde es mir gefallen.“
       Weit verstreut waren die hellen Häuschen inmitten grüner Matten, die sich wie dünne Decken über den steinigen Boden spannten. Die einzige Straße schlängelte sich zwischen neueren und uralten Gehöften hindurch, und nur einzelne schmale Wege führten zu den Behausungen der Menschen. Dennoch erschien der Ort wie ausgestorben.
       Mary bremste scharf ab, als sie in nicht allzu weiter Entfernung ein Ortsschild entdeckte. „Nach Ronaldsburgh sind es nur noch drei Kilometer", jubelte sie und war gleichzeitig erleichtert, dass diese einsame Gegend noch nicht ihr künftiges Zuhause war.
       „Du wirst dich wundern, Mary", sagte Anne leise, wie zu sich selbst, und presste ihre Puppe fest an sich. Ein Schauder lief durch ihren mageren Körper, sodass sie plötzlich fröstelte. Erschrocken bemerkte sie die Enge, die sich in ihrem Brustkorb bemerkbar machte. „Oh nein", stöhnte sie auf, „nicht jetzt.“
       Ein krampfartiger Hustenanfall schüttelte das Mädchen, das verzweifelt die Hand vor den Mund presste in der Hoffnung, den Anfall verhindern zu können. Keuchend rang Anne nach Luft.
       „Himmel, ausgerechnet jetzt." Mary trat erneut hart auf die Bremse. Den kleinen Ort hatten sie eben hinter sich gelassen, ebenso die Hoffnung, von einem der Bewohner Hilfe zu bekommen. Allerdings musste Mary sich eingestehen, dass sie den Eindruck gehabt hatte, eine kleine Geisterstadt zu durchfahren, da ihr nicht einmal ein Hund, ein Schaf, eine Kuh oder ein Huhn begegnet waren.
       „Soll ich anhalten? Willst du aussteigen?“
       Anne schüttelte nur den Kopf und rang nach Luft. „Fahr weiter, Mary", keuchte das Mädchen. „Ich schaffe das schon. Wir sind ja bald da." Die Stimme versagte ihr den Dienst. Schweißperlen liefen über ihr totenbleiches Gesicht, in dem die Augen auf einmal unnatürlich groß schimmerten.
       Mary trat aufs Gaspedal, der Wagen schoss nach vorne. „In Ronaldsburgh gibt es bestimmt einen Arzt", sagte sie voller Hoffnung und lenkte das Auto geschickt die kurvenreiche, grob geschotterte Strasse entlang. „Halt aus, Liebes", versuchte sie Anne Mut zuzusprechen.
       So wie sie es gelernt hatte versuchte Anne, gleichmäßig in den Bauch hineinzuatmen. Und sie hatte Glück. So schnell wie der Anfall gekommen war verschwand er auch wieder. Anne lehnte sich ermattet in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen.
       „Jetzt stehen wir genau am Eingang zu unserer neuen Heimat." Mary bemühte sich, ihre Stimme fröhlich und hoffnungs-toll klingen zu lassen. Dennoch schwang Angst mit, die sie nicht unterdrücken konnte. Unbändige Sehnsucht nach dem Elternhaus und dem hübschen Heimatstädtchen überkam sie.
       „Nicht weinen, Mary", versuchte Anne mit sanfter Stimme zu trösten. „Es wird alles gut, wenn wir erst einmal da sind und ausgepackt haben." Neugierig blickte sich die Elfjährige um. Sie wischte sogar mit dem Pulloverärmel die Fensterscheibe ab, um die Umgebung besser erkennen zu können. „Dort vorne musst du nach links abbiegen, da geht es zur Schule", sagte sie erfreut. „Es... hat sich eigentlich kaum etwas verändert.“
       Mary biss sich auf die Lippen. Sie blickte in den Rückspiegel und erschrak fast zu Tode. Für einen Moment lang glaubte sie, ein fremdes Kind mitgenommen zu haben. Annes Gesicht hatte sich verändert, auch ihre Haare schienen länger und dunkler zu sein. Sie trug auch nicht mehr den warmen Pullover, den die Mutter noch selbst gestrickt hatte, sondern ein niedliches rosafarbenes Kleidchen, das den schmalen Körper wie eine zweite Haut umgab. Dünne Träger lagen auf den mageren Schultern, und ein zartes Oberteil mündete in der Taille in einem duftigen Tüllröckchen.
       „Anne, was... soll der Unsinn!“, schrie Mary entsetzt auf.
    "Was machst du denn?" Sie bremste jetzt so
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