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Leise Kommt Der Tod

Titel: Leise Kommt Der Tod
Autoren: Sarah Stewart Taylor
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geworden. Die Zimmer im Erdgeschoss spiegelten Laceys und seine Interessen wider: An allen Wänden hingen gerahmte Fotos in Schwarz-Weiß und Farbe, so dicht beieinander, dass sie fast wie Collagen wirkten. Die freien Flächen dazwischen zierten Stofftücher, die Lacey in Japan und Südamerika gekauft oder selbst gestrickt oder gewoben hatte. Fred ließ seinen Blick über einen riesigen meergrünen Wandteppich aus verschlissener Wolle mit kleinen Stofffetzen wandern, der über der Kommode hing. Bei seinem Anblick musste er jedes Mal an das Netz eines Fischers denken, wobei die Stofffetzen die unglücklichen Fische darstellten.
    Die restliche Post war schnell sortiert. Er legte ein paar Werbebriefe zur Seite und stapelte die übrigen vier oder fünf Umschläge auf dem Tisch, dann setzte er sich und nahm noch einen großen Schluck von seinem Wein.
    Hinter ihm lag ein langer, anstrengender Tag, dessen einziger Lichtblick es gewesen war, zu Hause vom Duft gebratener Zwiebeln und Laceys auf dem Herd köchelnder Tomatensauce empfangen zu werden.
    Er drehte sich um und reckte den Kopf ein wenig, sodass er sie in der Küche am Herd beobachten konnte. Er wünschte sich das vertraute Gefühl von Sehnsucht und Zuneigung herbei, aber stattdessen erfüllte ihn nur dumpfe Traurigkeit. Seit Wochen ging das nun schon so. Es lag nicht an Lacey, zumindest kam es ihm nicht so vor. Vielmehr war seine Frau ein Gradmesser dafür, wie sehr sich seine Stimmung zum Negativen verändert hatte. Während ihrer vierundzwanzigjährigen Ehe hatte bislang allein ihr Anblick genügt, um ihn mit freudiger Dankbarkeit
zu erfüllen. Die beiden hatten sich vor einem Vierteljahrhundert auf der Dinnerparty eines Freundes kennen gelernt. Fred hatte damals gerade seinen Abschluss gemacht und schrieb an seiner Doktorarbeit über Potter Jennings. Daneben arbeitete er als technischer Angestellter an der Universität.
    Auf der Dinnerparty hatte er sich sehr unwohl gefühlt. Jeder der Anwesenden kam ihm gebildeter, reicher und besser aussehend vor, als er selbst es war. Auf die Frage seines rechten Tischnachbarn, was er denn mache, hatte er unbedarft geantwortet, er habe gerade sein Studium abgeschlossen und schreibe nun an seiner Doktorarbeit über Potter Jennings. Daraufhin hatte der Mann erwidert: »Was? Der alte Potter! Was treibt er denn so? Nimmt er immer noch Drogen?« Fred erinnerte sich noch an die Wut, die ihn angesichts dieser verurteilenden Bemerkung überkommen hatte. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und gegangen, schließlich verehrte er jenen Mann gerade wegen seiner komplizierten Spontaneinfälle und brillanten Ideen.
    Gerettet hatte ihn Lacey, die gegenüber von ihm am Tisch gesessen hatte. »Ich liebe Potter Jennings«, hatte sie mit ihrem wunderbaren kanadischen Akzent eingeworfen. »In meiner Wohnung hängt ein Druck von seinem berühmten Foto der Colorado Rockies. Es muss wundervoll sein, die Arbeit eines solchen Genies so gründlich kennen zu lernen.«
    Er war wie verzaubert, von ihrer ungewöhnlichen Formulierung und auch von der rot schimmernden Haarpracht, die wie ein Vorhang über ihre eine Schulter fiel. Ihre Kleidung - später erfuhr er, dass es sich dabei um eine Eigenkreation handelte - bestand aus einem gewebten, knielangen Kleid und einem hauchdünnen Pullover in hellem Grün. In seinen Augen wirkte sie faszinierend exotisch. Er hatte sich noch in jener Nacht in sie verliebt. Auf eine gewisse Art war alles, was er erreicht hatte, für sie gewesen.
    Jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, stand sein Buch über
Potter Jennings kurz vor der Veröffentlichung. Vor wenigen Tagen war ihm der Schutzumschlag zugesandt worden, inklusive anerkennender Kommentare auf der Rückseite und mit einem kurzen Begleitschreiben seines Verlegers, in dem er seine Zufriedenheit mit dem Projekt bekundete. Mit diesem Buch könnte er sich einen großen Ruf erwerben. Warum verspürte er trotzdem diese Weltuntergangsstimmung?
    Er wandte sich wieder dem Briefstapel zu. Einer der Umschläge war von Laceys Bruder in Montreal, adressiert an sie beide. Er würde ihr das Öffnen überlassen. Ein weiterer Brief, verfasst von guten Freunden in Sonoma, enthielt ein Dankesschreiben für ein Wochenende, das sie vor kurzem gemeinsam in Cambridge verbracht hatten.
    Dann öffnete er den letzten, einen langen, dünnen, weißen Umschlag mit Bostoner Poststempel. Er faltete das teure Briefpapier auseinander - und dann setzte sein Herz für einen Moment aus, als er den
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