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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du
Autoren: Laura Wulff
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wie ein gebrochener Mann.
    Er liest nur, redete sich Marie ein, doch ihr war bereits schwer ums Herz. Noch hatte er sich nicht aufgegeben, aber sie befürchtete, dass es nicht mehr lange dauern würde, sollte er keine neue Aufgabe finden.
    Sie streifte ihre Stiefel ab und schlüpfte in braune Lammfellhausschuhe. Daniel hatte Marie immer mit den dicken Puschen aufgezogen, dabei waren die Schuhe modern geschnitten, wie Ballerinas. Marie nahm ihm die Neckereien nicht übel, zumal sie diese Marotte ohnehin nicht ablegen würde, denn sie hatte selbst im Sommer kalte Füße und im ganzen Apartment waren entweder Fliesen oder Laminat verlegt. Seit März neckte er sie leider nicht mehr. Sie vermisste seine Frotzeleien!
    Daniel musste sie nun doch gehört haben, denn er lenkte seinen Rollstuhl von der Terrasse hinein ins Wohnzimmer und warf die Glastür hinter sich zu. Die Sonne ging unter, langsam wurde es frisch draußen. „Hola.“
    „Hola.“ Früher hatte er sie zur Begrüßung geküsst. Vermutlich sparte er sich jetzt die Peinlichkeit, dass er nur an ihren Mund herankam, wenn sie sich zu ihm hinunterbückte. Innerlich seufzte sie enttäuscht. „Du machst immer noch eine sauertöpfische Miene, wenn du über die Rampe fährst.“
    „Es wird mich ewig stören.“ Daniel legte seinen Tablet PC auf den Couchtisch und rieb mit den Handflächen über seine Oberschenkel, als wollte er prüfen, ob er nicht doch etwas spürte.
    Als sie zu ihm ging, beschlich sie wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Beine noch benutzen konnte und er nicht. Ihr war bewusst, wie unsinnig dieser Gedanke war – denn selbst wenn sie ebenfalls querschnittsgelähmt wäre, würde Daniel das in keinster Weise helfen –, aber er tauchte immer wieder in ihrem Kopf auf. „Mein Vater hat es nur gut gemeint.“
    Brummig ließ er sich zu einem „Ich weiß“ herab.
    „Warum bist du dann sauer, dass er den Umbau der Wohnung bezahlt hat?“ Für Rainer Bast war die Summe nur ein Taschengeld gewesen. Er hatte eine Firma, die anatomische Lehrmittel wie beispielsweise Skelette in Handarbeit herstellte, aufgebaut und führte sie sehr erfolgreich. Marie dagegen verdiente als Kostümbildnerin nicht viel und ihre Aufträge als Gerichts- und Phantomzeichnerin waren nicht mehr als ein Zubrot. Da Daniel nun kein volles Gehalt mehr bezog, mussten sie den Gürtel enger schnallen.
    „Weil es mir zeigt, was für ein armer Wicht ich bin“, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
    Bisher war es ihnen finanziell gut gegangen. Sie zählten zu den DINKYs – double income, no kids yet –, Paare, die beide einen Job, aber noch keine Kinder hatten. Doch nun war Daniels berufliche Zukunft ungewiss. „Wir hätten einen Kredit dafür aufnehmen müssen. Er wollte uns doch nur unterstützen.“
    „Es ist nicht nur das Geld, auch das hier.“ Zwei Mal schlug er kräftig gegen die Reifen seines Rollstuhls.
    Marie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Tröstende Worte schienen nicht zu ihm durchzudringen, aber mehr hatte sie nicht anzubieten. Außer ihrer Loyalität zu ihm.
    Nach dem Unfall wiesen ihn die Ärzte in eine Rehaklinik ein. Von dort aus kam er in ein Spezialhospital, da sein Rückenmark bei dem Sturz aus großer Höhe nicht vollständig durchtrennt worden war. Doch am Ende zerbrachen alle Hoffnungen. Seit Daniels Entlassung Ende Juli versuchte Marie, ihn aufzubauen, indem sie ihm vor Augen führte, dass das Leben weder zu Ende war noch sich auf diese vier Wände beschränkte, aber alle Bemühungen scheiterten. Langsam wusste sie nicht mehr weiter.
    „Du bist erst sechsunddreißig Jahre alt.“ Sie legte ihre Handflächen aneinander und bemühte sich, nicht allzu verzweifelt zu klingen. „Du darfst dich nicht aufgeben.“
    „Ich lese“, sagte er in seiner eigenen trockenen Art und zeigte auf den PC.
    Immerhin ja. Früher las er nur den Kölner Stadtanzeiger, inzwischen auch zahlreiche Online-Magazine und E-Books. Das sah Marie, die immer ein Buch in ihrer Handtasche mit sich trug, egal, wohin sie ging, natürlich gerne.
    „Aber du musst auch leben. Besuch doch mal wieder den Römer .“ Vor seinem Unfall hatte er in der Kneipe Zum stolzen Römer zwei Straßen weiter oft ein Bier getrunken, um von seinem Job runterzukommen, doch jetzt wollte er nicht, dass seine alten Bekannten ihn so sahen. Das Lokal zählte keineswegs zur modernen Eventgastronomie oder war ein schickes italienisches Restaurant, sondern es handelte sich um eine
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