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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du
Autoren: Laura Wulff
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machte.
    Aber sie ermahnte sich, verständnisvoll zu bleiben. Einen Freund zu verlieren war ein einschneidendes Erlebnis für einen jungen Menschen.
    Merkwürdig war allerdings, dass der Fund von Julias Leiche ihn mehr mitnahm als ihr Verschwinden vor dreizehn Monaten. Er schien regelrecht einen Schock zu haben.
    Marie beeilte sich, Horst und Markus Kranich ihr Beileid zu wünschen. Als sie zu ihrem Wagen eilte, damit Ben nicht weglief, ertappte sie sich dabei, wie sie ihre Handfläche an ihrem anthrazitfarbenen Plisseerock abwischte. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, obwohl es eine unbewusste Geste gewesen war. Unweigerlich fragte sie sich, ob Frau Kranich ihrem Mann vielleicht weggelaufen war, Marie könnte es verstehen.
    Zu ihrer Erleichterung wartete Ben am Auto auf sie. Sonst war er immer in Bewegung, kickte einen Stein weg, zupfte an seinen Haaren herum oder schrieb SMS und prüfte minütlich, ob es neue Einträge in sozialen Netzwerken gab. Doch er stand einfach nur mit dem Rücken an die Beifahrerseite gelehnt und schaute zu Boden. Sein Smartphone hatte er sogar zu Hause liegen lassen. Absichtlich! Das sah ihm gar nicht ähnlich. Normalerweise schien es an seiner Hand festgewachsen zu sein.
    Vielleicht sollte Heide mit ihm zum Arzt gehen. Marie machte sich große Sorgen. Sie würde am Abend mit ihrer Tante reden. Statt wie abgemacht zur Schule, fuhr sie ihn nach Hause nach Nippes, denn er schien nicht in der Verfassung zu sein, am Unterricht teilzunehmen.
    „Danke“, sagte er immerhin, als er aus dem Fahrzeug stieg. „Das war mir eben einfach zu viel.“
    Sie lächelte ihn mitfühlend an. „Die Beerdigung deiner Freundin war bestimmt das Schlimmste, was du bisher erlebt hast.“
    „Du hast ja keine Ahnung.“ Er warf die Wagentür zu und ging schnellen Schrittes in das dreistöckige Haus, in dem er mit seinen Eltern in der obersten Etage wohnte.
    Was hatte er damit gemeint? Sollte sie ihm hintergehen? Sie entschied sich dagegen, da sie nicht wie seine Mutter sein wollte. Wenn man ihn bedrängte, machte er ohnehin dicht.
    Seufzend machte sich Marie auf den Weg zum Hauptbahnhof, wo sie am Musical Dome als Kostümbildnerin fest angestellt war. Als Zeichnerin arbeitete sie nur, wenn sie einen Auftrag bekam, um zum Beispiel für die Polizei ein Phantombild zu erstellen, da manche Befragten mit den künstlichen Bildern der Spezialsoftware nicht zurechtkamen, oder für die Medien, um während einer Gerichtsverhandlung, zu der in Deutschland keine Kameras zugelassen waren, die Atmosphäre und die Reaktionen der Beteiligten einzufangen. Ungerne ließ sie Ben allein, aber sie konnte sich nicht auch noch den Nachmittag freinehmen.
    Sie schaltete das Radio ein, um sich abzulenken. Eigentlich hatte sie sich mit Musik berieseln lassen wollen, aber es erklang nur die monotone Stimme eines Sprechers, der lustlos die Elf-Uhr-Nachrichten vorlas. Sie streckte bereits den Arm aus, um auf das CD-Laufwerk umzuschalten, als sie eine Meldung hörte, die sie mitten in der Bewegung stocken ließ.
    „... die Anteilnahme auf der Beisetzung, die soeben zu Ende gegangen ist, war groß. Die Gerüchte, dass es bei der Obduktion des Leichnams der Siebzehnjährigen Hinweise auf ein mögliches Fremdverschulden gab, hat die Kriminalpolizei bisher nicht bestätigt ...“
    Marie stoppte so abrupt vor einer roten Ampel, dass der Fahrer hinter ihr beinahe auf ihren Wagen auffuhr. Im Rückspiegel sah sie, dass er wütend gestikulierte und mehrfach auf sein Lenkrad schlug. Entschuldigend hob sie ihre Hand und drehte das Radio lauter.
    „... und nun die Wettervorhersage ...“
    „Mist.“ Die Meldung war bereits vorbei. Hatte der Sprecher wirklich von Julia Kranich gesprochen? Es musste so sein, aber er hatte von möglichem Fremdverschulden gesprochen. Ein weiteres Detail an diesem furchtbaren Morgen, das nicht ins Bild passte, das nicht stimmte und Marie stutzig machte.
    Es musste sich nur um Gerede handeln, anders konnte sich Marie das nicht vorstellen.
    „Aber Julia Kranich ist doch durch ein Unglück gestorben, oder etwa nicht?“, murmelte Marie nachdenklich.
    Der Mann hinter ihr hupte, weil die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte. Marie, in Gedanken versunken, biss sich vor Schreck so stark auf die Unterlippe, dass sie Blut schmeckte.
     

3
     
    Geld war nie ein Problem zwischen Marie und Daniel Zucker gewesen.
    Diejenigen von ihren Verwandten und Freunden, die wussten, dass sie getrennte Bankkonten hatten, obwohl sie seit zwei Jahren
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