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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben
Autoren: Peter Henning
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den Büros an ihren Schreibtischen saßen, erschien ihr plötzlich geradezu aufregend.
    Seit sie zu Martin auf Distanz gegangen war, spielte Sex in ihrem Leben keine Rolle mehr. Ihre langjährige Freundin Julia, die ein gutgehendes Blumengeschäft in der City besaß und nicht an dauerhafte Beziehungen zwischen Männern und Frauen glaubte, kontaktierte regelmäßig entsprechende Agenturen, wenn sie Lust auf einen Mann hatte.
    »Ich geb dir gern die Nummer«, hatte sie zu Maggie gesagt, nachdem Maggie ihr von der Situation mit Martin erzählt hatte. Doch Maggie, die sich hinterher gemein vorgekommen war, hatte spontan erwidert: »Danke, aber
so was
mache ich nicht!«
    Mit Martin hatte alles so vielversprechend begonnen. Sie hatte ihn auf einer Zugreise nach München kennengelernt und sich spontan in ihn verliebt. Vor allem in seine nussbraunen, geheimnisvollen Augen.
    Sie hatten sich ein Abteil geteilt und waren schon nach wenigen Minuten miteinander ins Gespräch gekommen. Zwei Stunden später gingen sie gemeinsam in den Speisewagen, und da war beiden klar, dass aus ihrer Begegnung mehr werden würde. Doch Martin fing schon nach ein paar Monaten an, alleine auszugehen, und kam manchmal erst im Morgengrauen wieder nach Hause.
    |315| »Du riechst nach einer anderen Frau!«, hatte sie ihn eines Morgens zur Rede gestellt. Und Martin hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, sein Fremdgehen zu verschleiern, sondern vielmehr offen bekannt: »Na und. Ich brauche das eben. Eine Frau genügt mir nicht.« Da hatte sie ihm eine Ohrfeige verpasst, sich telefonisch krank gemeldet und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Und dies war der anfang vom Ende ihrer Beziehung gewesen. Sie begriff, dass sie Martin gar nicht gekannt hatte. Sie hatte nach der Trennung von Bernd nach einem Mann gesucht und in Martin jemanden gefunden, der sich auch mit Lennart gut verstand. Das hatte ihr offenbar genügt, wunderte sie sich nun, als sie mit ihrem Cognacglas auf dem Balkon stand und in die Dämmerung starrte.
    »Blödes Scheißding«, rief sie und trat gegen das Fahrrad, das klappernd umfiel. Und dann tat sie, einem Impuls gehorchend, Folgendes: Sie stellte das halbvolle Glas auf der Balustrade ab und bückte sich nach dem Rad. Doch statt es aufzustellen und an die Wand zu lehnen, hob sie es mit grimmiger Verachtung an, hievte es aufs Geländer und gab ihm einen kräftigen Stoß. Es folgte eine Stille, so als hielte die Nacht den Atem an. Das Erste, was sie hörte, war ein ersticktes animalisches Stöhnen in der Tiefe des Hofs, und im selben Moment ging ein solcher Ruck durch ihren Körper, dass sie glaubte, in einem über weite Ebenen dahinjagenden Schnellzug zu stehen, der mit kreischenden Bremsen abrupt zum Stillstand zu kommen versucht.
    |316| Die stoßartigen Wellen, die das Haus erfassten und die Scheiben erzittern und den Boden unter ihren Füßen vibrieren ließen, waren so stark, dass Maggie kurz das Gleichgewicht verlor und beinahe zu Boden gegangen wäre, wäre es ihr nicht in letzter Sekunde geglückt, sich am Geländer festzuhalten. Es folgten ein Poltern und Donnern, so als schütte jemand schwere Gesteinsbrocken auf einen Metallschubkarren. Und Maggie konnte sehen, wie das Cognacglas auf der Balustrade klappernd hin und her tanzte, bis es umkippte und hinunter in den Hof fiel. Ein letzter kräftiger Ruck erschütterte den Balkon, dann war alles vorbei.
    Verwirrt starrte sie in die Schwärze und lauschte auf die plötzliche Stille. Dann war ihr, als atme die Welt um sie herum hörbar wieder aus, während sich die Luft in ihren Lungen schmerzhaft zu stauen schien. Auf den umliegenden Balkonen wurden nach und nach erregte Stimmen und Geräusche laut, und Maggie hörte, wie in der Wohnung unter ihr jemand rief: »O Gott, ein Erdbeben! Die Erde hat gebebt!«
    Aus dem dunklen Hofkessel stieg heller, im Licht der nun sämtlich erleuchteten Fenster sichtbar gewordener Staub auf. Von dem Fahrrad war nichts zu sehen. Doch das Stöhnen, es würde da sein. Von jetzt an.

|317| Dreißig
    »Ich bin’s«, sagte Elke.
    »Wieso rufst du so spät noch an? Ist was passiert?«, fragte Miriam Bernheim und drückte den Telefonhörer fester ans Ohr.
    »Nein, aber ich muss dir unbedingt noch was erzählen!«
    »Es ist schon nach elf«, sagte Miriam unwillig. Sie hatte im Badezimmer gestanden und damit begonnen, sich abzuschminken. In ihr schwangen noch die letzten Tonfolgen des Russischen Quartetts von Haydn nach, das sie sich kurz zuvor auf der
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