Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Bruder heute Nacht verstorben ist«, sagte die Stimme am anderen Ende, und zunächst dachte Anna nur an den Schattenriss auf dem Fensterbrett in der Küche. Draußen schien die Sonne, und in dem kleinen Flurfenster leuchtete stahlblau ein Fetzen Himmel.
    »Wann?«, fragte Anne tonlos. »Wann ist er gestorben?«
    »Die Nachtschwester hat seinen Tod auf ihrem Kontrollgang gegen drei Uhr bemerkt«, sagte die Frau. Und Anna, die sofort die langen schlaflosen Stunden der vergangenen Nacht vor Augen hatte, dachte: Ich habe es gespürt.
    Nach dem Telefonat zog sie sich ganz langsam an, schminkte sich in aller Seelenruhe und verließ das |305| Haus. Doch statt direkt ins Sanatorium zu ihrem toten Bruder zu fahren, legte sie einen Umweg ein, um die entwickelten Fotos von der Drogerie abzuholen.
    Sie gab ihren nummerierten Abholschein an der Kasse ab, bezahlte und wartete geduldig, bis die Kassiererin den passenden Umschlag herausgesucht hatte. Mit der Andeutung eines höflichen Lächelns nahm sie den blau-weißen Umschlag in Empfang und verließ die Drogerie.
    Noch bevor sie ihren Wagen erreicht hatte, holte sie die Fotos aus dem Umschlag. Ungläubig betrachtete sie die Bilder, eines nach dem anderen. Sie ließ sie wieder und wieder wie Spielkarten durch ihre zitternden Hände gleiten, denn sie verstand nicht, was sie da sah. Zwar hielt Jakob, genau wie im Moment der Aufnahmen, auf sämtlichen Fotos die Augen geschlossen. Und auch sonst schien alles wie am Vortag. Ein Detail allerdings war anders: Jakob lächelte.

|306| Neunundzwanzig
    Es hatte damit begonnen, dass sie am Nachmittag Zeugin geworden war, wie Franziska aus der Buchhaltung in der Damentoilette Sex hatte. Maggie wollte nur rasch für das bevorstehende Meeting mit ihrem Gruppenleiter ihr Make-up auffrischen.
    Sie hatte die beiden nicht sehen, dafür aber ihr heftiges Atmen und Gestöhne hören können. An ihrem hellroten, mit einem goldenen Stern verzierten Pumps, der sich von ihrem Fuß gelöst haben musste und unter der Kabinentür hervorgekollert war, hatte sie erkannt, dass es Franziska war, die es dort drinnen mit irgendwem trieb. Während der Arbeitszeit, am helllichten Tag! Daraufhin hatte Maggie hastig ihr Schminkset wieder zugeklappt und war verwirrt und unverrichteter Dinge in ihr Büro zurückgelaufen.
    Am frühen Abend stieg sie in ihren auf dem Betriebsparkplatz stehenden Wagen, um nach Hause zu fahren, doch er sprang auch nach mehrmaligen Versuchen nicht an. Obendrein riss sie sich ein Loch in ihre neue teure Strumpfhose, als sie nach ihrer auf dem Beifahrersitz liegenden Lederhandtasche griff und dabei |307| mit dem Autoschlüssel an ihrem Knie hängenblieb.
    Sekundenlang hatte Maggie mit den Tränen gekämpft, schließlich aber ihr Handy hervorgeholt und die Pannenhilfe angerufen. Als der gelbe Wagen eine Dreiviertelstunde später auf dem Parkplatz eintraf, lagen acht zertretene Zigarettenstummel vor ihr auf dem Boden.
    »Die Batterie ist hinüber!«, sagte der Pannenhelfer, ein mit einem gelben Overall bekleideter Mann mit grauem Haar und blauen Augen, nachdem er erfolglos versucht hatte, Maggies Wagen mit dem Überbrückungskabel zum Laufen zu bringen.
    »Und was heißt das?«, fragte Maggie. Sie saß hinterm Steuer und steckte sich bereits eine weitere Zigarette an.
    »Dass Sie um eine neue Batterie nicht herumkommen«, sagte der Mann mit Blick in den offenen Motorraum. Dann verstaute er das Kabel in irgendeinem Fach seiner mobilen Werkstatt im Innern des Wagens.
    »Das wird teuer, nicht wahr?«, sagte Maggie und blies den Rauch ärgerlich gegen die Seitenscheibe der offen stehenden Tür.
    »Halb so wild«, sagte der Pannenhelfer, »hundertzehn inklusive Einbau.«
    Maggie tat einen Zug und überlegte kurz. Dann stieß sie den Rauch aus und sagte: »Also, von mir aus. Wenn’s unbedingt sein muss.«
    »Sie können Ihren Wagen natürlich auch hier stehenlassen und mit dem Bus nach Hause fahren, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte der Pannenhelfer.
    |308| »Nein, schon gut. Machen Sie schon eine neue rein«, sagte Maggie, plötzlich von einer Unruhe erfasst, und dachte: Wenn ich doch bloß schon zu Hause wäre.
    Nachdem sie bezahlt hatte und losgefahren war, fiel ihr Blick wieder auf das Loch in ihrer Strumpfhose. Kurz hatte sie das Gefühl, dass es tiefer reiche, durch die Haut ins Fleisch. Doch sie schüttelte diesen Gedanken sofort wieder ab, indem sie an das Erlebnis in der Damentoilette dachte, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher