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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben
Autoren: Peter Henning
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heraus und goss es halbvoll. Und mit Blick durch die Panoramascheibe auf das Fahrrad kippte sie dessen Inhalt auf einen Zug hinunter.
    Fünf Minuten später stand sie mit dem Glas in der einen und der Cognacflasche in der anderen Hand auf dem Balkon und betrachtete das Rad missbilligend. Es war dunkelrot, genau wie Lennart es sich gewünscht hatte, nachdem sein altes in der Schule aus dem Fahrradkeller gestohlen worden war, die Versicherung sich in ihrem Schreiben aber wortreich geweigert hatte, den Schaden zu ersetzen. Und ohne Fahrrad keine Tour!
    Maggie spähte hinunter in die Tiefe. Links standen die Mülltonnen, und wie so oft schwindelte es sie beim Hinunterschauen. Dann schweifte ihr Blick zu den umliegenden Balkons, auf denen größtenteils die Geländer schon standen, aber noch nicht montiert waren. Auf einigen lagen noch Abbruchreste, die beim Ausbau der Wohnungen angefallen waren, heller, im Abendlicht leuchtender Sandstein. Auf anderen waren sogar noch dicke Plastikplanen vor den Fenstern, die es einem unmöglich machten hineinzusehen.
    Sie waren vor gerade mal sechs Wochen in die neue, mit weiß geöltem Bambusparkett ausgestattete Vierzimmerwohnung gezogen, und Maggie hatte sich |312| auf die neue Umgebung gefreut. Doch von der anfänglichen Euphorie war nichts übriggeblieben. Die Hoffnung, in den neuen Räumen wieder eine größere Nähe zu Lennart herzustellen, hatte sich nicht erfüllt, konnte sich nicht erfüllen, solange Martin bei ihnen war, dachte Maggie bitter. Mutig lehnte sie sich über das Geländer und blickte erneut hinunter in die Tiefe.
    Am Abend zuvor hatte sie den Müll nach unten gebracht und einen Obdachlosen dabei überrascht, wie er die Tonne nach essbaren Abfällen durchsucht hatte. Mit ihrer Tüte in der Hand hatte Maggie innegehalten und kurz mit dem Gedanken gespielt, sich einfach umzudrehen und wegzugehen. Der Mann hatte sie erst wortlos angesehen und den Deckel der Tonne zugeklappt, dann war er an ihr vorbei in der Dämmerung verschwunden.
    Der Mann war ihr unheimlich gewesen. Seine gierigen Blicke auf ihre Abfalltüte, die ihr spontan ein Schuldgefühl gaben, die verschorften Hände, seine lauernde Art. Später, als Maggie vor dem Fernseher saß, musste sie immer wieder an ihn denken.
    Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und dachte mit Blick auf das Fahrrad: Wie kommt der Kerl dazu, dem Jungen hinter meinem Rücken ein Rad zu kaufen? Na warte! Im selben Moment wurden im Hof Geräusche laut. Maggie blickte hinunter, und da war er doch tatsächlich wieder: der Obdachlose vom Vorabend. Die gleiche gedrungene Gestalt. Er sah sich kurz um, dann klappte er den Deckel der am äußersten Rand stehenden Tonne auf und begann in deren Innerem zu wühlen.
    |313| Interessiert verfolgte Maggie das Treiben des Mannes und nippte an ihrem Glas. Dann trat eine Frau hinzu. Sie hielt, das konnte Maggie von ihrem Platz aus deutlich sehen, zwei prall gefüllte Plastiktüten in der Hand. Die beiden schienen sich tatsächlich zu unterhalten, Maggie konnte aber leider nicht verstehen, was sie sprachen. Dann drehte die Frau sich um, und zu Maggies Verwunderung verschwanden beide gemeinsam unten im Haus.
    So was, dachte sie kopfschüttelnd und goss den Rest des Cognacs hinunter. Was zum Teufel hat dieser Penner in unserem Haus verloren? Sie füllte ihr Glas von neuem. Und weil sie in der Mittagspause nur einen Salat gegessen hatte, spürte sie bereits den Alkohol im Kopf und auch in den Armen und Beinen.
    Nein, das war wirklich nicht ihr Tag gewesen. Erst die peinliche Situation in der Damentoilette, anschließend die defekte Batterie und ihr zerrissener Strumpf. Und nun auch noch dieses blöde rote Fahrrad. Was hatte Martin sich bloß dabei gedacht? Dass sie tatenlos zusah, wie er den Jungen mit seiner Zuwendung und seinen Geschenken immer ein bisschen weiter auf seine Seite zog? Nein, da hatte er sich verrechnet. Das würde sie nicht zulassen. Unter keinen Umständen!
    Über den Hof brach die Dunkelheit herein. Die scharfen, bei Sonnenschein blitzenden Kanten der Metallabschlüsse der Flachdächer ringsum waren kaum noch auszumachen, verschwammen mit dem dichter werdenden Schwarz des Himmels. In den Fenstern ringsum gingen die ersten Lichter an.
    |314| Am Nachmittag war sie aus der Damentoilette regelrecht geflohen. Doch nun, von den Drinks gelöst, fand sie das Ganze geradezu amüsant. Die Tatsache, dass Franziska dort drin mit irgendwem Sex hatte, während die anderen ein paar Meter weiter in
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