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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben
Autoren: Peter Henning
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Couch liegend auf ihrem iPod angehört hatte. Irgendwann hatte sie damit begonnen, sich die Stücke, die sie mit ihren Partnern spielte, in den unterschiedlichsten Interpretationen anzuhören, um ein Gefühl für ihre eigenen Auslegungen zu entwickeln. Und ihr gefiel das beständige Flirren und Nachklingen der Töne in ihrem Inneren, mit dem sie seit einigen Abenden regelmäßig in den Schlaf sank.
    Neben ihrem Orchesterengagement spielte Miriam seit kurzem auch in einem Streichquartett. An |318| der Seite von zwei Violinen und einer Bratsche, ihrer Orchesterkollegin Elena, hatte sie den Part des Cellos inne. Inzwischen hatten sie Stücke von Strawinsky, Alban Berg und Kurtag in ihrem Repertoire und zuletzt Stücke von Zemlinsky und eben Haydns berühmte Russische Streichquartette geprobt.
    Kurz vor dem Abitur hatte sie mit Elke, die ganz passabel Klavier spielte, für die Abschlussfeier Duette von Brahms, Friedrich August Kummer oder Ferdinando Carulli eingeübt. Doch zu einem gemeinsamen Vortrag vor den in der Aula versammelten Eltern, Lehrern und Schülern war es dann nicht gekommen, weil Elke sich kurz vorher beim Skilaufen den Arm gebrochen hatte. Und so hatte sie alleine Vivaldis Cellokonzert No. 9 in D-Moll, Opus 26 gespielt. Elke hatte mit eingegipstem Arm neben ihren Eltern gesessen und mit Tränen in den Augen ihrem Spiel gelauscht. Manchmal dachte Miriam, dass sich ihre Freundschaft davon nie mehr wirklich erholt hatte.
    Miriam mochte Haydn, Kurtag oder Britten. Doch am liebsten hatte sie Bachs Suiten für Violoncello Nr. 1 & 3, gespielt von Pablo Casals
.
Manchmal erklangen mitten am Tag unversehens Sequenzen daraus in ihr wie die warme Stimme eines guten alten Freundes, der plötzlich zu ihr sprach. Dann dachte sie an das Schwarzweißfoto von Casals, das in ihrem Schlafzimmer an der Wand hing und das sie noch heute manchmal wehmütig ansah, wenn sie den Bogen wie in Trance über die Saiten strich.
    Pablo Casals, der auf dem Foto einen grauen Anzug trug und komischerweise eine Zigarre im Mund hatte, |319| während er spielte, war einmal ihr großes Vorbild gewesen, ihr Gott, dem sie mit ihrem Spiel gehuldigt und nachgeeifert hatte. Bis die Sache in Spanien passiert war, während ihres Besuchs in seiner Geburtsstadt El Vendrell in Katalonien, eine gute Autostunde von Barcelona entfernt, wo sich in der dortigen Avinguda Palfariana 67 das kleine Casals-Museum befindet, in dem sie sich damals mehrere Stunden aufgehalten hatte, um ihrem Idol nahe zu sein. Und in dem sie sich auf für sie noch immer unerklärliche Weise schuldig gemacht hatte.
    »Was ist denn?«, sagte sie.
    »Mir ist was ziemlich Verrücktes passiert«, sagte Elke und räusperte sich kurz.
    »Erzähl schon«, sagte Miriam. Während sie den Hörer ans Ohr drückte, betrachtete sie das leicht nach Make-up-Entferner riechende Wattepad, das sie in der anderen Hand hielt. Die winzigen bräunlichen Flecken darauf sahen aus wie geronnenes Blut.
    »Ich hab, ach, wie soll ich sagen. Ich hab mich im Kino von einem Wildfremden betatschen lassen«, sagte Elke.
    »Du hast was?« Miriam hörte, wie sich der Atem ihrer Freundin beschleunigte.
    »Ja! Er hat mich einfach geküsst und meine Brüste berührt, ein Wildfremder. Und ich habe mich nicht gerührt. Ich weiß nicht, warum.«
    »O Gott«, sagte Miriam und warf das Wattepad in den kleinen Metallmülleimer unter dem Waschbecken. »Weil du Angst hattest!«
    »Ja«, sagte Elke. »Wahrscheinlich.«
    |320| »Klingt ja furchtbar«, sagte Miriam Bernheim und bemerkte, dass sie hellwach war. »Oder hat es dir vielleicht gefallen?«
    »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich dabei an Klaus gedacht habe.«
    »Moment, kannst du mal einen Augenblick warten?«, sagte Miriam, legte den Hörer auf den Tisch und mixte sich in ihrer kleinen Küche auf die Schnelle einen Gin Tonic, ihr momentanes Lieblingsgetränk.
    Sie nahm den Hörer wieder in die Hand, trank einen Schluck und sagte: »Am besten, du tust so, als sei überhaupt nichts passiert. Vergiss es einfach!«
    »Meinst du?«, sagte Elke. »Also ich weiß nicht. Aber es muss doch einen Grund für mein Verhalten geben.«
    »Manchmal ist es besser, einfach so zu tun, als sei überhaupt nichts geschehen«, sagte Miriam, als müsse sie die Worte nur entschieden genug wiederholen, um an ihre Wahrheit zu glauben. Dabei wusste sie selbst nur zu gut, dass es kein Zurück gab, wenn man einmal eine Grenze überschritten hatte. Denn wenn sie nachts wachlag, sah sie noch
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