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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben
Autoren: Peter Henning
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manchmal die inzwischen drei Jahre zurückliegenden Ereignisse wie auf Fotopapier gebannt vor sich. Jedes einzelne Bild. Das Gesicht des Aufsehers, der sie zunächst ungläubig angestarrt und schließlich am Arm gepackt, ihr die kostbare Casals-Partitur vorsichtig entwendet und sie in sein kleines Büro gezerrt hatte. Die aufgebrochene, offen stehende Vitrine. Und auch die Blicke der anderen Museumsbesucher, die ihnen nachgestarrt hatten. Nicht einmal ihrer drei Jahre jüngeren Schwester |321| Ada, vor der sie kaum ein Geheimnis bewahrte, hatte sie damals davon erzählt.
    »Miriam?«, vernahm sie plötzlich Elkes Stimme. »Bist du noch dran?«
    »Ja«, antwortete Miriam und hörte sich auf einmal unvermittelt sagen: »Wir alle stehlen und werden bestohlen. Und worum es dabei geht, ist: nicht erwischt zu werden. Und den Verlust zu ertragen. Manchmal überraschen wir uns selber mit dem, was wir tun.«
    »Was meinst du?«, fragte Elke irritiert.
    »Was wissen wir denn schon über uns? Vielleicht hat es dich ja angemacht, dass er dich berührt hat. Vielleicht wolltest du dich aber auch nur selbst bestrafen.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Elke. »Womöglich ja beides. Aber vielleicht soll mir das Ganze ja etwas sagen?«
    »Ja, vielleicht«, erwiderte Miriam Bernheim.

|322| Einunddreißig
    Als sie damals in seine Augen gesehen hatte, war Mia klargeworden, dass er die Art von Angst, die sie ihm zu beschreiben versuchte, noch nie erlebt hatte.
    Das macht nichts, hatte sie gedacht, denn er liebt mich. Doch als er das erste Mal miterlebte, wie sie eine Attacke hatte, da hatte sie gewusst, dass er den Weg, den sie vor sich hatte, nicht bis zum Ende mit ihr gehen würde. Dass ihm dazu der Mut und vielleicht auch der Wille fehlten.
    Tatsächlich hatte sich Hendrik mit der Zeit immer mehr von ihr gelöst und sie schließlich nach nicht einmal einem Jahr verlassen. Sie hatte ihm lange verheimlicht, wie es um sie stand, um ihre Beziehung nicht zu gefährden.
    In vielen Therapiesitzungen hatte Mia gelernt, dass sie auf das Angsteinflößende zugehen müsse wie auf einen Feind im Hinterhalt. Doch stattdessen hatte sie auf die beruhigende Wirkung der Medikamente vertraut, die ihr die Psychiater verschrieben hatten. Sie fühlte sich mit den kleinen gelben oder braunen Kapseln sicher, wenn sie wieder das Vertrauen in die |323| Welt verloren hatte und alles mit einer schmerzhaften Überschärfe wahrnahm. Es war unvorstellbar für sie, jemals wieder ohne Tabletten leben zu können.
    Zuletzt hatte es durchaus Phasen gegeben, in denen sie sich lebendig und den Herausforderungen ihres Alltags gewachsen gefühlt hatte. Doch wenn sie an das dachte, was mit ihrem Vater vor sich ging, dann befielsie die Angst, er könne sie mit sich in die Tiefe reißen.
    Mia spielte mit dem Gedanken, die Tablettendosis eigenmächtig zu erhöhen, damit sie dem gewachsen sein würde, was da auf sie zuzukommen drohte.
    Sie hatte sich eine Tasse Kaffee bestellt und saß in der Cafeteria des Krankenhauses, in das man ihren Vater gebracht hatte. Vor ihr auf dem Teller lag ein helles Croissant. Daneben lagen zwei unberührte Zuckersäckchen auf dem orangefarbenen Tablett.
    Sie hatte einen langen Spaziergang unternommen und war deshalb erst am Nachmittag telefonisch erreicht worden. Er war vor laufender Kamera umgekippt und fast eine Viertelstunde lang bewusstlos gewesen. Nun saß sie in der Cafeteria und wartete darauf, dass der diensthabende Arzt sie über das weitere Vorgehen informierte.
    Draußen war es bereits dunkel, und bis auf den Zeitung lesenden Mann am Nebentisch war die Cafeteria leer. Mia riss eines der Zuckersäckchen auf und schüttete dessen weißen Inhalt in ihren Kaffee. Die Zeitung des Mannes war vom Vortag, das sah sie an der Schlagzeile. Sämtliche Zeitungen waren voll mit Berichten und Meldungen über das kurze Beben gewesen, |324| das die gesamte Region für ein paar Sekunden heftig erschüttert hatte.
    Krankenhäuser machten ihr eigentlich Angst. Denn in jeder Erkrankung eines anderen Menschen meinte sie Anteile ihrer eigenen Sterblichkeit zu erkennen. In jedem gehetzten Blick sah sie ihre eigene lauernde, zum Sprung bereite Panik. Doch nun war alles ruhig, und Mia hatte das Gefühl, den niedertourigen, fast lautlosen Puls dieses Ortes spüren zu können. Sofort stiegen Bilder der Ruhe und des Friedens in ihr auf, Bilder, die sie sich regelmäßig ins Bewusstsein rief, wenn sie zu Hause mit geschlossenen Augen auf der Couch in ihrem Wohnzimmer
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