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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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einer Farm aufgewachsen. Sie musste nur einen Blick auf seinen schlecht sitzenden Anzug werfen, um zu wissen, dass er tatsächlich aus bescheideneren Verhältnissen stammte als seine Kommilitonen. Sie war schon lange genug Näherin, um einen guten Stoff zu erkennen, und sein Anzug war von minderer Qualität, der Wollstoff stumpf und formlos, ohne den Glanz, der feineres Tuch auszeichnete. Während seine Kommilitonen weiter dem Ausgang zustrebten, blieb Mr. Marshall stehen und sah Rose erwartungsvoll an. Er hat müde Augen, dachte sie, und für einen so jungen Mann sieht er sehr abgekämpft aus. Anders als
die anderen blickte er ihr offen ins Gesicht, als ob er sie als seinesgleichen betrachtete.
    »Ich habe notgedrungen mit angehört, was Sie zu dem Doktor gesagt haben«, begann sie. »Über den Aderlass.«
    Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe mir zu viel herausgenommen, fürchte ich.«
    »Aber ist es denn wahr? Was Sie gesagt haben?«
    »Ich habe nur meine Beobachtungen geschildert.«
    »Und habe ich unrecht, Sir? Sollte ich ihm gestatten, meine Schwester zur Ader zu lassen?«
    Er zögerte. Nervös blickte er sich zu Schwester Poole um, die die beiden mit sichtlicher Missbilligung beobachtete. »Ich bin nicht qualifiziert, Ihnen einen Rat zu geben. Ich bin nur ein Student im ersten Semester. Dr. Crouch ist mein Professor, und er ist ein ausgezeichneter Arzt.«
    »Ich habe dreimal mit angesehen, wie er sie zur Ader gelassen hat, und jedes Mal haben er und die Schwestern behauptet, ihr Zustand hätte sich gebessert. Aber um ehrlich zu sein, ich sehe keinerlei Verbesserung. Jeden Tag sehe ich nur …« Sie brach ab; ihre Stimme versagte, und sie musste gegen die Tränen ankämpfen. Leise fuhr sie fort: »Ich will doch nur das Beste für Aurnia.«
    Schwester Poole mischte sich ein: »Sie fragen einen Medizinstudenten ? Glauben Sie, er weiß es besser als Dr. Crouch?« Sie schnaubte verächtlich. »Da können Sie ebenso gut einen Stallburschen fragen«, sagte sie und rauschte aus dem Krankensaal.
    Mr. Marshall schwieg eine Weile. Erst als Schwester Poole den Saal verlassen hatte, sprach er weiter, und seine Worte, so freundlich sie waren, bestätigten Roses schlimmste Befürchtungen.
    »Ich würde sie nicht zur Ader lassen«, sagte er leise. »Es würde nichts nützen.«
    »Was würden Sie denn tun? Wenn sie Ihre eigene Schwester wäre?«
    Der Blick des jungen Mannes ruhte bedauernd auf der schlafenden
Aurnia. »Ich würde ihr helfen, sich im Bett aufzusetzen. Ihr kalte Kompressen gegen das Fieber auflegen und gegen die Schmerzen Morphium geben. Ich würde vor allem dafür sorgen, dass sie genug Nahrung und Flüssigkeit bekommt. Und Trost, Miss Connolly. Wenn ich eine Schwester hätte, die so leidet, wäre es das, was ich ihr geben würde.« Er sah Rose an. »Trost und Beistand«, sagte er traurig und ging davon.
    Rose wischte sich die Tränen ab und ging zurück zu Aurnias Bett, vorbei an einer Frau, die sich in eine Schüssel erbrach, an einer anderen, deren Bein von der Wundrose rot und geschwollen war. Frauen in den Wehen, Frauen, die furchtbare Schmerzen litten. Draußen fiel der kalte Novemberregen, aber hier drinnen, wo bei geschlossenen Fenstern der Holzofen brannte, war die Luft dumpf und stickig und voll übler Krankheitsdünste.
    War es ein Fehler gewesen, sie hierherzubringen?, fragte sich Rose. Hätte ich sie lieber zu Hause behalten sollen, wo sie nicht die ganze Nacht dieses furchtbare Stöhnen, dieses klägliche Gewimmer hören müsste? Das Zimmer in ihrem Logierhaus war eng und kalt, und Dr. Crouch hatte dazu geraten, Aurnia ins Krankenhaus zu verlegen, wo er sich besser um sie kümmern könne. »Für Wohlfahrtsfälle, wie Ihre Schwester einer ist«, hatte er gesagt, »betragen die Kosten nur so viel, wie Ihre Familie aufbringen kann.« Warme Mahlzeiten, ein Stab von Schwestern und Ärzten, die für sie sorgten – all das würde auf sie warten, hatte Dr. Crouch ihnen versichert.
    Aber nicht das hier, dachte Rose, als sie die Reihe von leidenden Frauen betrachtete. Ihr Blick blieb an Bernadette haften, die jetzt still und stumm dalag. Langsam trat Rose an das Bett und starrte auf die junge Frau, die erst vor fünf Tagen lachend ihren neugeborenen Sohn im Arm gehalten hatte.
    Bernadette hatte aufgehört zu atmen.

3
    »Will dieser verfluchte Regen denn gar nicht mehr aufhören?«, rief Edward Kingston und starrte hinaus in den Wolkenbruch.
    Wendell Holmes hauchte einen Ring Zigarrenrauch aus,
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