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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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Wieder musste ich zur Schere greifen.
    Es waren dünne Briefe. Die braunen, unpersönlichen Umschläge waren säuberlich aufgeschnitten, alle an der gleichen Stelle, an der Schmalseite neben der Briefmarke. Das Papier war vergilbt, die Kugelschreiberschrift krakelig. Auf dem ersten Brief stand oben rechts das Datum: 13.9.1977.
    »Liebe Mutter, jetzt versuche ich also zu schreiben, obwohl es nichts zu schreiben gibt. Hier ist es so, wie ich es dir schon erzählt habe. Ich werde keine Verlegung nach Kuopio beantragen, ich bin ja in Helsinki gemeldet. Also sitze ich meine Zeit auch hier in Sörkkä ab.«
    Ich ließ den Brief sinken. Bisher hatte ich geglaubt, Rane hätte in Kuopio im Gefängnis gesessen. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigefahren war, hatte ich eine seltsame Beklemmung verspürt, als ginge sein Geist hinter den Mauern um. Aber in Wahrheit war er hier inhaftiert gewesen, nur einige hundert Meter von meiner neuen Wohnung entfernt.
    Ich trat ans Fenster. Das Licht aus den vergitterten Fenstern schimmerte durch die Bäume. Hatte Ranes Zelle auf dieser Seite gelegen, hatte er von dort drüben dieselben Bäume betrachtet, die ich jetzt von meiner Seite aus sah?
    »Ich erinnere mich nicht, wie es passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich Vater wirklich getötet habe oder ob es ein anderer war. Von dem Hammer waren alle Fingerabdrücke abgewischt, aber ich war der Einzige mit Blutspritzern. Man müsste sich an eine solche Tat doch erinnern. Oder bin ich verrückt geworden? Ich hab den Alten gehasst, und du weißt auch, warum, aber ich werde nichts gestehen, woran ich keine Erinnerung habe.«

    Den Zeitungsberichten zufolge hatte Rane mehr als zwei Promille gehabt. Schlimme Filmrisse waren bei mir auch keine Seltenheit, aber an meine dümmsten Taten konnte ich mich trotzdem erinnern, so gern ich sie vergessen hätte. Zur Tatzeit waren wir alle im Haus gewesen, Kaitsu und ich, Großmutter, Veikko und Sara. Trotzdem hatte es keinen Tatzeugen gegeben.
    Unter den Briefen lag ein Foto. Ein schlanker junger Mann in Jeans mit breitem Schlag, einer braunen Cordjacke und einem braunen Hemd, dessen breiter Kragen über der Jacke lag. Die blonden Locken fielen auf den Kragen. Seine Miene war abweisend und misstrauisch. Mein Onkel Rane war ein gutaussehender Bursche gewesen …

    ZWEI
    Veikko
    … so attraktiv, dass die Mädchen bis in unser abgelegenes Dorf geradelt sind, um sich mit ihm zu treffen. Ich versuchte, vom Aussehen meines großen Bruders zu profitieren. Ich spähte durch den Türspalt, sooft Rane ein Mädchen küsste und ihr an die Wäsche ging. Ohne es zu wissen, geilte somit jedes Mädchen gleich zwei Jungs auf. Vielleicht hätte ihnen das geschmeichelt, wenn sie es gewusst hätten.
    Ich war dunkler und untersetzter als Rane und galt nicht als gefährlicher Bursche wie er. Vater behauptete sogar, ich wäre nicht sein Kind. Ich wünschte mir, er hätte recht gehabt.
    Andererseits widerte mich die Vorstellung an, Mutter hätte ihn betrogen.
    Nach Vaters Tod sprach Mutter kaum noch von ihm, und Rane wurde mit keinem Wort mehr erwähnt. Sie hat seine Briefe aus der Haft vernichtet, Sirkka und ich haben den ganzen Dachboden nach ihnen abgesucht. Wir haben zwar nicht darüber gesprochen, aber wir wussten beide genau, was der andere suchte.
    Manche Frauen verlieben sich grundsätzlich in Nichtsnutze und Arschlöcher, wie zum Beispiel die Frauen in unserer Familie, Mutter, Sirkka und Sara. Mutter hieß schon vor der Hochzeit Liimatainen, sie hat einen Vetter geheiratet, wie es auf dem Land selbst nach dem Krieg noch üblich war. Vater war im Krieg nicht eingezogen worden, er hatte ganz knapp unter der Altersgrenze gelegen. Das war ein Stachel in seinem Fleisch gewesen; neben den Veteranen, die kaum älter waren als er, fühlte er sich wohl wie ein kleiner Junge. Wahrscheinlich trank und prügelte er nur, um zu beweisen, dass er keiner war.

    Manchmal überlege ich, welche Wahl man treffen sollte, wenn man sich seine Familie aussuchen könnte. Brauchen die Menschen eine glückliche Kindheit, oder bringen sie dann noch weniger zustande? Und was sollte dann aus den Schnapsfabri-kanten, Therapeuten und Ärzten werden? Menschen wie Sara und ich halten die Volkswirtschaft in Gang. Als ich mein dreijähriges Künstlerstipendium bekam, bin ich noch am selben Tag mit dem Taxi nach Kirkkonummi gefahren und habe eine Kiste Schnaps gekauft. Sollen sich die Weiber im Dorf ruhig das Maul darüber zerreißen, wie der Schriftsteller
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