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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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Kindeswohl ist«, unterbrach Richard, »ist im deutschen Gesetz nicht definiert. Das definiert das Jugendamt. Und der eine Sachbearbeiter sieht das Ki n deswohl schon gefährdet, wenn das Kind ständig bei den Großeltern ist, eine andere Sachbearbeiterin erst, wenn es schwer verletzt im Krankenhaus liegt.«
    »Ich kenne Annemarie Hellewart, die Leiterin des Al l gemeinen Sozialen Diensts, gut«, widersprach De p per. »Sie ist eine Frau mit Augenmaß und Erfahrung.«
    »Verzeihung, Frau Depper. Aber das ist doch gerade die Krux. Sie kennen Ihr Jugendamt. Sie schätzen Frau Hellewart, Sie vertrauen ihr. Die Mutter, die eing e schüchtert oder wütend um ihr Kind kämpft, sehen Sie dagegen zum ersten Mal.«
    Die Amtsrichterin schaute den plötzlich so angriffslu s tigen Staatsanwalt überrascht an. »Leider sehe ich sie nicht zum ersten Mal, wenn es um eine so drastische Maßnahme wie eine Inobhutnahme geht. Wir sind nä m lich von Rechts wegen gehalten, vorher alle anderen Mi t tel auszuschöpfen. Doch wenn die Mutter nicht kooper a tiv ist, wenn sie das Kind trotz richterlicher Anordnung nicht in den Kindergarten schickt …«
    »Wie im Fall Tobias«, hakte ich nach.
    Depper blinzelte. »Familiensachen sind grundsätzlich nicht öffentlich, Frau Nerz. Und es handelt sich, wie schon gesagt, um schwierige und komplexe Entsche i dungen.« Die Richterin beugte sich vor. »Es ist noch gar nicht lange her, da hat eine Mutter ihre vierjährige Toc h ter von einer Neckarbrücke ins Wasser geworfen. Es stand ganz groß im Stuttgarter Anzeiger . Sie werden sich erinnern. Angeblich hat sie sich überfordert gefühlt. Für die Presse war der Schuldige schnell ausgemacht: das Jugendamt. Die Frau habe sich mehrmals ans Jugendamt gewandt und um Hilfe gebeten. Aber tatsächlich war sie nie beim Jugendamt. Sie hat sich an andere Stellen g e wandt. Doch selbst wenn es so gewesen wäre, dann frage ich Sie, Frau Nerz. Wie würden Sie entscheiden? Da e r klärt Ihnen eine Mutter aus einer augenscheinlich inta k ten Familie, sie fühle sich überfordert. Hätte man ihr s o fort das Kind weggenommen, dann hätten die selbste r nannten Familienschützer gleich wieder Kindsraub g e schrien. Und wer denkt auch so was? Jede Mutter fühlt sich von Zeit zu Zeit überfordert!«
    »Tatsächlich?«
    »Das ist doch allgemein bekannt.« Sonja Depper griff plötzlich nach dem Weinglas und trank in großen Schl u cken.
    »Sie haben keine Kinder?«, fragte ich. Eigentlich int e ressierte es mich nicht, ob die Frau mit den fülligen Hü f ten Kinder hatte. Aber irgendetwas in Deppers Verhalten zwang zu der Frage.
    »Nein.« Sie stellte das Viertelesglas mit einem Klong auf den Tisch. »Aber … aber ich hatte Kinder. Zwei Töchter. Sie sind … nun, sie sind kurz nach der Geburt verstorben. Plötzlicher Kindstod.« Sie lachte unmotiviert. »Wenn das ein Mal passiert … mein Gott, schon davon erholt sich so manche Mutter nicht. Und mir … uns pa s siert das zweimal. Vermutlich ein Gendefekt. Sie werden verstehen, dass mein Mann und ich es nicht ein weiteres Mal haben … haben herausfordern wollen, wenn ich das mal so ausdrücken darf.«
    Ich verspürte das Bedürfnis, hysterisch zu lachen. »Und eine Adoption?«, fragte ich mit mehr weiblichem Entsetzen im Ton, als ich empfand.
    Richard hielt den Blick fest auf seine Hand gesenkt, die am Bierglas drehte.
    »Wir haben uns das tatsächlich überlegt«, antwortete die Richterin. »Aber es gibt so viele Paare, die auf Ki n der warten, und wir werden auch nicht jünger.«
    »Dann gehen Sie doch ebayen«, schlug ich vor.
    »Was?«
    »Im Internet gibt es bestimmt auch Kinder zu kaufen.«
    »Das ist geschmacklos, Frau Nerz!«
    »Wetten, dass?«
    Sie wandte sich dem Mann am Tisch zu. »Kinderpo r nos im Internet, das ja, aber Kinder?«
    Richard fing an, mit der Zigarettenschachtel zu spi e len.
    Sonja Depper nahm einen weiteren tiefen Schluck und strich sich das Haar hinters Ohr. »Und Sie, Frau Nerz? Haben Sie Kinder?«
    »Sehe ich so aus?«
    »Lassen Sie mich raten! Sie wollen auch keine.«
    »Ach, es gibt so viele auf der Welt, es herrscht Übe r produktion, da muss ich nicht auch noch produzieren.« Wieso rechtfertigte ich mich überhaupt!
    »Nach meiner Erfahrung«, urteilte die Richterin, »ist das Argument der Überbevölkerung ein vorgeschobenes Argument. Tatsächlich sind es meist egoistische Gründe, warum Frauen keine Kinder wollen. Sie scheuen die Ve r antwortung, die Arbeit, die Opfer und
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