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Lebkuchen und Bittermandel

Lebkuchen und Bittermandel

Titel: Lebkuchen und Bittermandel
Autoren: Jan Beinßen
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kamen. Während die Festtage an sich den Familien vorbehalten waren, blieb der Vorabend zum vierten Advent fest und unverrückbar reserviert für das Treffen der Ehemaligen – jedenfalls für die bis heute verbliebenen Unerschütterlichen. Diese mittlerweile mehr oder weniger gesetzten Persönlichkeiten zogen nun alle nach und nach an Paul vorbei, denn er hatte sich den besten Platz für die Begrüßung ausgewählt, den es im Goldenen Ritter gab: die mit zerstoßenem Eis gefüllte Frischfischtheke im Eingangsbereich des urig-rustikalen Altstadtlokals. Paul hatte Jan-Patricks Frau Marien von dieser Position verdrängt und verteilte an ihrer Stelle die Sektgläser an die Neuankömmlinge.
    Als Erstes trudelten David und Hilde ein, wobei Hilde eigentlich nicht zum Abi-Jahrgang dazugehörte, aber als Davids Frau geduldet wurde und durch ihren herben Charme und ihre Schlagfertigkeit inzwischen ein gern gesehener Gast in den Reihen der 86er geworden war. David, groß, gertenschlank und mit dem dichten, blonden Haar seiner Jugend derjenige, der sich am besten von ihnen allen gehalten hatte, grüßte Paul mit einem freundschaftlichen Klopfer auf die Schulter. Hilde ging beherzter zur Sache und umarmte ihn.
    Gleich danach betraten Rüdiger und Giulia das festlich dekorierte Gasthaus: Rüdiger, der eine steile Karriere bei der Bundeswehr hingelegt hatte, trug den kommissüblichen Bürstenschnitt. Obwohl auch er als sportlich galt, hatte ihm sein Rang als höherer Offizier den einen oder anderen Marsch mit schwerem Gepäck erspart, so dass sein Pullover über einem nicht zu übersehenden Bäuchlein spannte. Giulia, seine temperamentvolle Gattin mit italienischen Wurzeln, drückte Paul zwei Küsschen auf die Wangen, bevor sie sich ihr Sektglas schnappte.
    Jakob kam gleich nach ihnen. Das schlaksige, hochgewachsene Deutsch-Ass mit markanter Bogennase begrüßte Paul ungewohnt herzlich und umarmte ihn. Der freiberufliche Autor, der sich – soweit Paul wusste – mehr schlecht als recht über Wasser halten konnte, wirkte höchst zufrieden und optimistisch. Das freute Paul für den sonst eher zurückhaltenden und von Selbstzweifeln geplagten Grübler.
    Ulrich erschien im Verbund mit Til. Beide kamen Paul schon leicht angetrunken vor, lehnten den dargebrachten Sekt aber dennoch nicht ab. Til machte auf Paul einen wie stets ausgeglichenen und mit sich selbst vollauf zufriedenen Eindruck. Auch wenn sein Haar nicht dichter und sein Körper nicht schlanker geworden war, ging es ihm offensichtlich gut. Designerbrille und Krokolederschuhe verrieten Paul, dass auch seine Geschäfte in der Medizintechnik ordentlich liefen. Er prahlte mit protziger Rolex und fettem Siegelring, und seinen Porscheschlüssel steckte er erst ein, nachdem er sicher sein konnte, dass ihn jeder gesehen hatte.
    Til durfte offenkundig einen Wohlstand genießen, der Ulrich nicht vergönnt war: Dieser wirkte abgerissen und leicht heruntergekommen, was nicht allein seinen zu langen und fettigen Haaren zuzuschreiben war. Paul fragte sich, ob Ulrichs Einkommen als Landwirt zu schmal oder die Ansprüche seiner Exfrau zu hoch sein könnten – oder sogar beides zutraf.
    Udo und Sonja hingegen boten ein in sich sehr homogenes Erscheinungsbild: Ihr guter Eindruck, der sich aus der sportlich modischen Kleidung ebenso wie aus der jovialen Art des Auftretens ergab, erfreute Paul. Er gönnte den beiden ihr gemeinsames Glück, das sie schon in ihrer Schulzeit begründet hatten und nun als Paar auslebten. Finanziell schien es um die Bankkauffrau und den Finanzberater mit eigener Agentur ebenfalls gut bestellt zu sein.
    Matthias und Katja beendeten das Stelldichein der Ehemaligen. Auch bei ihnen handelte es sich um ein Ehepaar, das bereits im Gymnasium zueinandergefunden hatte. Gleichwohl waren beide ihren ursprünglichen beruflichen Lebenszielen treu geblieben: Während bei Katja stets das soziale Engagement überwogen hatte und sie ihre Erfüllung in einer Kindertagesstätte fand, war Matthias Ingenieur geworden und hatte sich zu einer Koryphäe im Brückenbau entwickelt. Er hatte promoviert und vor Kurzem sogar eine Professur ergattert. Paul drückte seinen alten Freund fest an sich.
    Als Nachzügler schneite ein inzwischen etwas krumm gehender Senior herein, dessen rundes Gesicht von einem weißen Vollbart umrahmt wurde: Oberstudienrat a. D. Winfried Klugmann war die einzige Lehrkraft von einst, die den Kontakt zum legendären Jahrgang ’86 bis heute gehalten und noch kein
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