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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Autoren: Manfred Lütz
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sprechen. Da wird es immer existenziell ernst, das betrifft jeden selbst, mit Leib und Seele. Da geht es nicht um bloßes Wissen, sondern um Leben und Tod.
    Ich habe Philosophen erlebt, die höchst überzeugend über Kants kategorischen Imperativ disputierten, aber so ganz bei sich waren sie, als sie auf erheblich niedrigerem Niveau anschließend sehr persönlich ihren Cholesterinspiegel zum Thema machten. Auch manchem Pfarrer ist die Angst vor dem göttlichen Strafgericht weit weniger anzumerken als die Furcht vor der Darmspiegelung nächste Woche. Staatstragende Persönlichkeiten sind imstande, nach einer höchst subtilen und würdigen Festrede in die Niederungen banalster Körperbeschwerden abzusinken. Aber in diesen Niederungen sind sie wahrhaft mit dem Herzen dabei. Nicht was man sich irgendwann einmal ausgedacht hat, sondern was sie hier und jetzt unmittelbar betrifft, das bewegt die Menschen. Und nichts ist unmittelbarer als die persönliche Befindlichkeit.
    Was die Philosophie früher jenseits der sichtbaren Welt in Transzendenz und Metaphysik verortete, was die Religion als das Umgreifende und Ergreifende verehrte, was die Verfassungsstifter als das Unverfügbare beschworen, das suchen die Menschen heute wie selbstverständlich mitten in dieser Welt. Damit ist bewiesen, dass die Säkularisation, die Verweltlichung der Welt und ihre Entzauberung, inzwischen zu einem totalen Sieg gelangt ist. Und der war erst dann erreicht, als jenseits der Grenze des irdischen Lebens nichts wirklich Bedeutendes mehr ernsthaft gesucht wurde. Der restlos aufgeklärte Mensch vermutet das Heil, den Sinn, die Erlösung nicht mehr in irgendwelchen jenseitigen Hinterwelten, sondern im Diesseits. Der Philosoph Odo Marquard stellt fest, es herrsche heute »die ideologische Naherwartung der heilen Diesseitswelt, der mentale Teddybär des modern verkindlichten Erwachsenen«.
    Wandte man sich früher in existenzieller Not zuständigkeitshalber an einen der vierzehn Nothelfer oder irgendeinen anderen Fachheiligen, ist heute ein Facharzt zuständig. Und das Heil in solch existenzieller Notlage erwartet man nicht vom Anzünden einer Kerze nebst Gebet, sondern man nimmt Zuflucht zu einer hochmodernen Untersuchung, zum Beispiel einer Magnetresonanztomographie, die den Körper wie im Anatomielehrbuch abbildet, und dann zu einer Therapie, die möglichst »in Amerika« erfunden wurde. Wie selbstverständlich sind ernst zu nehmende existenzielle Notlagen medizinische Notlagen, so, wie körperliche Erkrankungen die einzig »richtigen Erkrankungen« sind. Damit richten sich aber auch alle Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschheit, die sich früher in den Religionen kraftvollen Ausdruck verschafften, auf die Medizin. Nicht bloß Heilung von irgendwelchen Beschwerden, sondern das Heil schlechthin suchen die Menschen im Gesundheitswesen, das Heil hier und jetzt auf ewig.
    Und so ist auch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, restlos säkularisiert: Apokalypse now. Die letzten Dinge spielen sich, wenn überhaupt, mitten im Leben ab: Für das ewige Leben quantitativ ist die Medizin zuständig, für die ewige Glückseligkeit qualitativ die Psychotherapie. Das Paradies auf Krankenschein. Bei Nichterfüllung: Klage – versteht sich.
    Wer sich in der katholischen Kirche immer noch damit beruhigt, dass der priesterfressende Zölibat die Schuld am Priestermangel trage, der übersieht, dass Therapeutenschwemme und Priestermangel in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Immer war es von hoher Attraktivität, einen Beruf zu bekleiden, dem es um das Heil der Menschen ging. Doch sogar mancher Pfarrer traut heute den Methoden seines Hausarztes mehr Wirkung zu als den eigenen Lossprechungsworten bei der Beichte. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass junge Menschen jenen atavistisch-geheimnisvollen Glanz des wirksamen Heilbringers, der früher die Attraktivität des Priesterberufs ausmachte, heute im Arzt- und Therapeutenberuf erblicken. Die ehelose Lebensform scheint sich übrigens bei beiden Berufen aufzudrängen. »Eine Arztfrau ist eine Witwe, deren Mann noch nicht gestorben ist«, hörte ich bei der Verabschiedung eines seinem Beruf ganz ergebenen Chefarztkollegen.
    Es kann also kein Zweifel bestehen, die Gesundheit hat eine atemberaubende Karriere hinter sich. Weit und breit zeigt sich allgemeingesellschaftlich nichts, das sich mit ihr messen könnte, und so kann man trotz aller theoretischen Bedenken nicht umhin zuzugeben: In der
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