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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Autoren: Manfred Lütz
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die pralle Lebenslust strahlen sie dabei nicht aus. So könnte sich der irritierende Gedanke einschleichen, die Gesundheit sei ein Feind der Lebenslust. Doch gegen solche simplen Formeln gibt es ein unschlagbares Argument: Für Tote ist Lebenslust kein Thema mehr. Die Lage ist also erfreulicherweise so kompliziert, dass es geradezu unvermeidlich ist, ein Buch darüber zu schreiben, zumal die Begriffe, um die es hier geht, schwergewichtig sind.
    1. »Das höchste Gut ist doch – die Gesundheit!«
    Es gibt in unseren pluralistischen und religionsmüden Gesellschaften noch einen heiligen Ritus, der alle Menschen verbindet, religionsübergreifend vom Atheisten bis zum Fundamentalisten, schichtenübergreifend vom Arbeiter bis zum Bankdirektor und parteiübergreifend von links bis rechts: die Geburtstagsfeier. Und im Rahmen dieser Feierstunden der individualisierten Zivilgesellschaft wird bei Leuten über 65 Jahren unerbittlich wie das Amen in der Kirche in mindestens einer Festansprache der Satz zelebriert: »… und das höchste Gut, meine Damen und Herren, ist doch die Gesundheit.« – Beifall. Sowohl der Satz wie der allgemeine Beifall sind unvermeidlich. Niemand wird sich hier ausschließen. Allenfalls bei offensichtlicher Erkrankung des Jubilars darf dieser Satz fehlen. Er wird dann aber umso intensiver von allen Anwesenden gedacht – mit mitleidigem Blick auf den armen Siechen. Je höher das Alter des Jubilars, desto mutiger werden übrigens alle kleinen Sünden wider die Gesundheit öffentlich aufgezählt. Das ist der einzige Moment, wo ein wenig Humor anklingt. Denn niemand wird es wagen, solch lustige Bemerkungen misszuverstehen und sich selbst in doch erheblich jüngeren Jahren derart genussvollen Verfehlungen hinzugeben. Neunzigjährige sind eben Ausnahmen und selbstverständlich nicht wegen, sondern trotz ihrer kleinen Maßlosigkeiten so alt geworden. Zurück zum Ernst der Feierstunde. Bei allem zur Schau getragenen Individualismus und Pluralismus in unseren Gesellschaften – hier ist die Übereinstimmung überwältigend. Über allem alltäglichen Streit und Hader thront majestätisch der Satz: Das höchste Gut ist die Gesundheit.
    Doch leider ist eine solche Behauptung kompletter Unsinn. Niemals ist in der gesamten philosophischen Tradition des Abendlandes und des Morgenlandes irgendjemand auf die absurde Idee verfallen, in einem so zerbrechlichen Zustand wie der Gesundheit der Güter höchstes zu sehen. Bei Immanuel Kant ist das höchste Gut die Einheit von Heiligkeit und Glückseligkeit oder Gott. Und entgegen dem Anschein vieler importierter östlicher Heilslehren: Die religiösen Genies jedweder Religion zeichneten sich durch mancherlei, gewiss aber nicht durch Gesundheit aus. Das alles hindert aber weder einen bestallten Philosophen, der im Seminar das höchste Gut ganz woanders verortet, noch einen amtlichen Religionsvertreter, der ansonsten pflichtgemäß den lieben Gott im Munde führt, heftig Beifall zu klatschen, wenn der Herr Bürgermeister oder sonst ein wichtiger Mensch bei der Geburtstagsfeier salbungsvoll den Satz der Sätze spricht: Das höchste Gut ist die Gesundheit. Eine solch offensichtliche Doppelmoral wird nur deshalb nicht offensichtlich, weil sie flächendeckend herrscht.
    Politisch würde der Satz, wenn man ihn nur einen Moment ganz ernst nähme, zum sofortigen Zusammenbruch der finanziellen Grundlagen unserer Gesellschaften führen. Denn wenn die Gesundheit wirklich das höchste Gut wäre, dann müsste maximale Diagnostik und maximale Therapie für jeden einzelnen Menschen absolutes und nicht diskutierbares Recht sein. Das aber wäre schon jetzt nicht einmal annähernd finanzierbar, wie alle Kenner der Lage sehr gut wissen. So ist – offenbar infolge eines gesunden Instinkts – bisher auch noch niemand auf die finanziell katastrophale Idee verfallen, der Gesundheit als höchstem Gut Verfassungsrang zu geben. Logisch ist das eigentlich nicht, denn Verfassungen sind die klassischen Aufenthaltsorte für höchste Güter.
    Nicht Lebenslust, sondern Doppelmoral und Unlogik herrschen also, wo es um die Gesundheit geht, und das legt die Vermutung nahe, dass es mit dem Gerede von der Gesundheit als dem höchsten Gut nicht so weit her sein kann. Jedoch, weit gefehlt: Was der Philosoph im Seminar, der Pastor auf der Kanzel und der Politiker im Angesicht der Verfassung verlauten lassen, wird eher nur so dahergeredet im Vergleich zu dem, was sie sagen, wenn sie über die Gesundheit
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