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Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz
Autoren: Hermann Kant
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Europfad auf eine Straße bestenfalls zweiter Ordnung mit sich, deren Kuhlen und Hümpel man vor geraumer Zeit mit einer haushälterisch bemessenen Menge Bitumen überzogen hatte. Weshalb mir war, als befinde sich jedes der Räder in jedem Moment seines Vorwärtsrollens nicht nur im rasanten Ausgreifen, sondern zugleich in rasend wechselnder Disposition zu den anderen. Mal in einem Loch, mal auf einem Hügel, mal auf einer Falte, mal in einem Riss, mal tiefer als die Miträder, mal höher als sie, mal im Quadriga-Verbund mit allen, mal ganz allein, immer aber nur für einen flüchtigen Augenblick in der jeweiligen Position.
    Wenn ich auch selten bedaure, am Computer kein Algorithmen-Komponist zu sein, auf dem Teilstück der kippeligen Nebenstrecke zum Vortragsort bedauerte ich es sehr. Denn als solcher hätte ich den Konstellationswechsel im Fahrwerk meines hüpfenden Wägelchens nicht mit verwaschenen Worten wie
flüchtiger Augenblick
beschreiben müssen, sondern ihn in eine Rechnerformel zwingen können, in der neben der Reisegeschwindigkeit auch Reifendruck, Federkraft, Gesamtgewicht, Fahrzeugtyp und Gegenwind untergekommen wären
    Und wozu das? Etwa um im Dienst der Mobilwesenforschung die Frequenz des schwingenden Schütterns zu erfassen, mit dem wegen der Wegbeschaffenheit rechnen muss, wer, weil er öffentlich ein Lied von sich singen will, von P. nach Z. auf Reise geht? Weit gefehlt. Ich wollte nurauf Ablenkung von der Pein hinaus, die mir besonders dann durchs Bein fuhr, wenn ich das eine oder andere Pedal zu treten hatte.
    Ungern, weil ich der Kasse nicht als kostendämmendes Beispiel dienen möchte, sei es gesagt: Ob großes Weh oder kleines Wehweh, ich halte sie wie auch den Pilleneinsatz gegen sie im Zaum, wenn ich mir Schwieriges zu denken gebe. Gegen das chorische Jauchzen
Die Gedanken sind frei!
weiß ich Dämpfendes, aber gegen die Jaulensnot, die mit starken Beschädigungen einhergeht, komme ich mit Gedanken an. Keineswegs immer und nie mit Allerweltsproblemen. Doch bei Daseinsrätseln, die mich in Anspruch nehmen, verfängt es.
    Ein Programm zum Beispiel, ein Computerprogramm zu ertüfteln, aus dem sich der fahrbahnabhängige Ratterfaktor auf der Verbindung von P. nach Z. ergäbe, hätte bestimmt vom schrillen Reiz im Fuß abgelenkt. Doch war es, wie gesagt, mit mir als Formelartist weniger weit her, als es von P. in Mecklenburg nach Z. in Brandenburg ist. Weshalb ich mir, um mich gegen das Reißen abzuschotten, ein vertrauteres geistiges Pflaster suchte. Eines, auf dem weniger die boolesche Algebra als vielmehr das Alphabet regiert. Eins, auf dem als gut gilt, wer in der Lage ist, nicht nur das passende Wort zu finden, sondern auch, wenn es die Lage will, ein passenderes zu erfinden.
    Will die Lage oder Erzählung das aber nicht und stellt sich dem wortreichen Satz keine kurvenreiche Aktion an die Seite, neigen Leser dazu, von kringeligem Unrealismus zu sprechen. Oder zu deinem Frommen strenge Artikel aus gestrengen Werken abzuschreiben. Manchmal in Sütterlinschrift und mit Wendungen, die dir tief ins Ohr dringen und schmerzen, als zöge dir einer dieses lang.Was zwar, verglichen mit dem Gliederreißen, eine sanfte Berührung ist, den An-deinem-Ohr-Zieher jedoch veranlasst, jedenfalls, wenn er Hinnerk heißt und zu konstruktivem Missfallen neigt, ein Bündel handlungshaltiger Papiere auf die Post zu geben.
    Davon, dass seine Sendung mich in einem Augenblick erreichen würde, in dem ich stöhnend den Aufbruch nach Z. und den Ausbruch der Gicht durchlebte, hat er so wenig ahnen können wie von der Rolle scharfer Probleme beim Ankampf gegen schartigen Schmerz. Er wollte meinen Kopf von Unnötigem befreien und mit Nötigem bestücken, und ich habe, indem ich belachte, was er schrieb, meine Zehen gehindert, allmächtige Kommandeure über mich zu sein. Weshalb ich sein Paket ein CARE-Paket nenne, geschnürt von einem bedachten Freund für einen unbedachten Freund.
    Wie er an die Papiere gekommen war, ließ er nicht wissen, aber eine ellenlange Einführung von seiner Zeichnerhand enthob mich der Aufgabe, den Packen Stück für Stück durchzugehen. Ich hätte es, stand im Begleitbrief, mit dem Stoff für einen Gegenwartsroman zu tun, der meiner Schreiberhand harre und sich an die beiliegenden Hauptgeschehnisse, alle verbürgt und beglaubigt, nur die Namen geändert, halten könne.
    Im Herbst 1990 erwarb der Buchprüfer Jason Passwang aus Itzehoe in Holstein am Dorfrand von Bleicken in Nordwestmecklenburg
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