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Lebensbilder I (German Edition)

Lebensbilder I (German Edition)

Titel: Lebensbilder I (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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unterstützt, die heftigsten Anklagen gegen das junge Geschlecht.
    Man konnte es diesem nicht verzeihen, daß es sich mehr an die Phantasie als an den Verstand (wie die verstaubte Klassik) wandte, daß jetzt Menschen mit menschlichen Leidenschaften an die Stelle der blassen, blutleeren Schemen getreten waren.
    Englische Blätter leisteten, wie oben gezeigt, den französischen in diesem Kampfe freundnachbarliche Hilfe. Nur dem französischen Kaisertum war man ja im Britenreich feindlich gesinnt gewesen; einer intellektuellen Revolutionierung wollte man dort ebensowenig das Wort reden, wie seit 1789 einer politischen. Man übersah bloß, daß gerade die beständig angefeindete französische Staatsumwälzung in England das Auftreten zwar nicht seines größten, gewiß aber meistgelesenen Dichters des 19.Jahrhunderts gezeitigt hatte. Walter Scotts Siegeslaufbahn begann. Aus der Fülle der welthistorischen Ereignisse, die er selbst miterlebt hatte, war ihm die Anregung geworden, die Geschichte selbst zum Gegenstand der Dichtung zu machen. Wohl war er nicht einmal in England der erste, der solches wagte. Wenn schon nicht mehr de Foes »Memoirs of a Cavalier« , hatte er doch wohl der Damen Lee und Porter »Recess« und »Scottish Chiefs« gelesen, die so etwas wie historische Romane geschaffen hatten, aber von der geschichtlichen Treue oft recht weit abgeirrt waren. Scott hat jedenfalls erst die nicht unwirksame Verbindung von historischer Wirklichkeit und freier Erfindung künstlerisch gehoben und ihr Daseinsberechtigung verschafft. In Jahrzehnten, die dem mächtigen Flügelrauschen gewaltiger Begebenheiten angstvoll hatten lauschen dürfen, mußte seine dichterische Tat ein lautes Echo wecken. Es war ein Taumel der jubelndsten Begeisterung, in die man sich bei Scotts Dichtungen hineinlas. Ganz Europa stand unerschütterlich in dem Banne seines Könnens und verschlang gierig, was er bot. Ein Pseudohistorizismus spannte um die Gebildetsten aller Nationen seine Netze. Es war ein Sieg von unheimlicher Gewalt.
    Er kann nicht unbegreiflich erscheinen. Da man so viel Geschichte miterlebt hatte, wollte man selbst deren längstvergessene Phasen wieder an sich vorüberziehen sehen. Und so mußten Richard Löwenherz, Karl der Kühne, Ludwig XI., Cromwell u. v. a. aus ihren Gräbern emporsteigen und in künstlerischer Vollendung zu den Lesern sprechen.
    Das waren die zweifachen Folgen der Niederlage Napoleons; einmal die Abschüttelung des unerträglich gewordenen geistigen Joches, die Befreiung von überlebten künstlerischen Richtungen, die der Kaiser favorisiert hatte, dann die Befruchtung der Poesie durch die Geschichte. Die zweitgenannte Wirkung war vielleicht noch intensiver und weiterreichend als die erste. Denn nun brauste durch ganz Europa der Chor der epischen Geschichtsschreiber oder geschichteschreibenden Epiker, denen keine historische Figur und Begebenheit zu unbedeutend schien, um sie nicht in dichterischer Verkleidung auferstehen zu lassen. Ödester Pragmatizismus begegnet dabei ebenso wie willkürlichste Geschichtsverfälschung. Aber die Leser verschlangen alles in wildester Sensationsgier; und wer gegen Ende der Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts im Roman etwas sagen wollte, mußte es in Scotts Manier tun, um beachtet zu werden. Es war nur ein Glück, daß dieser Dichter, dem man sich so völlig und willig ergeben hatte, ein Genie war und selbst seine oberflächlichsten Nachahmer noch insoweit befruchtete, daß sie zwar seine Fehler, deren er ja manche hat, noch übertrieben, aber auch an seinen blendenden Vorzügen lernten und ihnen möglichst nahe zu kommen suchten. In England, Frankreich und selbstverständlich in Deutschland, wo man ja selbst in Zeiten, als man der sprachlichen Ausländerei am schärfsten zuleibe ging, die stoffliche um so lieber ertrug, wie z. B. Philipp von Zesens Wirken dies zeigt, war die Scottnachahmung in höchster Blüte. Die Horace Smith, Crowe, Cooper und Hope, die Soulié, Mesnard, Salvandy und Merimée, die van der Velde, Zschokke, Spindler, Hauff und Alexis offenbaren nicht als die einzigen, aber als die markantesten – all die kleinen und kleinsten Nachbildner aufzuzählen, wäre zu weitläufig – die nachhaltige Einwirkung des Scottschen Vorbildes auf ihr Schaffen.
    Nur von einem, der ebenfalls den gebieterischen Einfluß des Engländers verspürte, muß noch gesprochen werden: Tieck verließ damals die Gefilde der »wundervollen Märchenwelt« und trat 1826 mit zwei
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