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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos
Autoren: Frank Schätzing
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abnehmen, so dass die Kinder nicht mehr die pädagogisch wertvolle Erfahrung des Schießens machten, wo doch alles voller Nigger, Juden, Kommunisten und Pazifisten war? Dieser Präsident musste ja wohl selber Kommunist sein. Oder Pazifist!
    Bis jetzt haben wir einen Blick auf die offizielle, die legale Fraktion geworfen, die schlicht und einfach anderer Auffassung ist als die demokratische. Diese Gegner Clintons sind Personen des öffentlichen Lebens, die ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen formulieren. Ihr Anspruch gründet – ob sie es wollen oder nicht – auf eine breite, extremistische Bewegung, die weiter am rechten Rand steht, als man es sich in Europa vorstellen könnte. Da sind die gewaltbereiten Suprematisten, die aufwieglerischen, antisemitischen und rassistischen Christian Patriots, die rund achthundert regierungsfeindlichen Milizen, die jede Waffenkontrollgesetzgebung ablehnen, Verschwörungstheorien verbreiten und Clinton verdächtigen, die Amerikaner entwaffnen zu wollen, um die Russen und die Chinesen ins Land zu lassen, die ganze rechtsextreme Szene. Ein Blick ins Internet reicht. Die Michigan Militia zum Beispiel erzählt dort, was Clinton vorhat. Mit kommunistischen Horden, sowjetischer Ausrüstung und Latinobanden die Opposition zu zerschmettern. Dagegen proben sie den Aufstand. Ihre Theorien sind mehr als lächerlich, dennoch haben sie zwölftausend Mitglieder, und sie können auf beachtliche Summen zurückgreifen! Die rechtsextreme Szene wird auf zwölf Millionen Mitglieder geschätzt, und sie sind in der Gesellschaft ähnlich stark verankert wie Le Pen oder Schirinowski in Europa, mehr als die Skinheads in Deutschland.
    Das alles bezieht das republikanische Amerika achselzuckend in seinen Sittenkodex mit ein, aber wegen einer schmierigen kleinen Nummer im Oval Office nageln sie einen Präsidenten ans Kreuz, der zumindest versucht hat, den Missständen abzuhelfen. Das ist nur möglich in einem Land, in dem sich gesellschaftliche Strömungen mit rasender Geschwindigkeit auseinander entwickelt haben, und das keine Zeit hatte, zu einer nationalen Identität zu finden. Einem Land, in dem die Oberfläche gemäßigt erscheint, während darunter die Konflikte schlimmer aufbrechen denn je, und ausgerechnet die Tugendwächter jede Moral und Ethik mit Füßen treten, weil sie befürchten, Opfer der Modernisierung und eines neuen Denkens zu werden.
    Clinton ist ein Symbol, das muss man begreifen. Es geht nicht um seine Person, sondern um seine Funktion, um das, was er repräsentiert. Er steht stellvertretend für den Krieg zwischen Fortschritt und Rückschritt, den das zerrissene Amerika mit sich ausfechtet. Die Methoden sind in den letzten Jahren immer rücksichtsloser geworden, und alle haben begeistert mitgemacht. Mit verstörenden Resultaten. Dass Clinton am Rande des Abgrunds stand, verdankte er beispielsweise den Medien – paradoxerweise hat das modernste Medium, das Internet, die mittelalterliche Hexenjagd am meisten begünstigt. Wahrscheinlich ist die Rechnung der Medienverantwortlichen sogar aufgegangen: Subtrahiere vom zu erwartenden Umsatzplus mögliche Schadensersatzforderungen. Ist das Ergebnis größer als null, wird eine mies recherchierte und moralisch verwerfliche, dafür aber spektakuläre Berichterstattung ohne Bedenken in Gang gesetzt. Andererseits haben die Medien Clinton aber auch gerettet. Verwirrend? Nicht in einer Medienwelt wie unserer. Am Ende sind Präsident und Medien einander ähnlicher geworden, als beiden lieb sein kann. Beide haben ihre moralische Reputation eingebüßt.
    Gleiches gilt für andere öffentliche Kräfte. So hat das FBI von Monica Lewinsky verfasste Liebesbriefe an Clinton, die sie nie abgeschickt und sogar am PC gelöscht hatte, durch EDV-Spezialisten wieder sichtbar gemacht – um was zu beweisen, fragt man sich? Sind gesellschaftliche Wertvorstellungen nur noch durch Tabubruch und Outing darstellbar? Wer oder was soll hier geschädigt werden? Der Präsident? Oder die Demokratie, die Freiheit des Einzelnen?
    In der Tat ist die Entwicklung bedenklich. Bei Nixons Watergate waren Politiker und Medien noch zurückhaltender. Nixon ist nie derart demontiert worden wie Clinton, nie so in der Öffentlichkeit bloßgestellt worden. Aber die Zeiten haben sich geändert.
    Ein anderes Beispiel. Jeder wusste, dass Roosevelt behindert war, aber man ging darüber hinweg. Der Anstand wurde gewahrt, auch von den Medien, die seine Behinderung einfach nicht
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