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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos
Autoren: Frank Schätzing
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Infotainments zurück nach seinem abgeschotteten Tal, nach Überschaubarkeit und Problemen, die er versteht. Unfähig, die Wirklichkeitsschnipsel aus aller Welt ins rechte Verhältnis zu setzen, sucht er sich einen schlichten, kleinen Ausschnitt, um endlich wieder Anteil nehmen zu können, widmet seine ganze Betroffenheit dem einzelnen, im Fernsehen gezeigten Flüchtling, um den es längst schon nicht mehr geht.
    Seine Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit.
    Im Juni 1999 erlebte dieser normale Nachrichtenkonsument dann die Kapitulation Miloševićs und den Gipfelmarathon in Köln. Der Frieden überstrahlte alles. Der abschließende G-8-Gipfel präsentierte Bilder der Eintracht. Clinton, Jelzin, Schröder, alle schienen sich wieder lieb zu haben. Da die meisten Menschen immer noch nicht so richtig wussten, worum es in dem Krieg überhaupt gegangen war, vertrauten sie auch diesmal den Bildern und gaben sich der Vorstellung hin, einem Film mit Happy End beigewohnt zu haben.
    Aber so einfach geht das nicht in einer vernetzten Welt, in der täglich komplexere und abstrusere Interessengeflechte entstehen. Niemand hätte vermutet, dass die Intervention in Jugoslawien Boris Jelzin dazu veranlassen könnte, mit dem dritten Weltkrieg zu drohen. Niemand konnte ahnen, dass die Kosovofrage schon lange vor dem Krieg Kräfte auf den Plan gerufen hatte, die ganz eigene Ziele verfolgten. Im globalen Netzwerk sehen wir nur noch, was passiert. Nicht mehr, worum es geht. Nicht, wer Einfluss nimmt und mit welchen Auswirkungen. Vor diesem Hintergrund haben sich die Ereignisse während des Kölner Gipfels abgespielt, die nicht in die Medien gelangt sind und in den Akten nur als »der Zwischenfall« auftauchen. Dieser »Zwischenfall« hat auf erschreckende Weise deutlich gemacht, welche Gefahren ein globales Dorf bereithält, in dem sich die Bewohner nicht mehr auskennen und selbst die Entscheider jeden Überblick verloren haben. Und dass wir gut beraten sind, unserer Vorstellung der Wirklichkeit mit Skepsis zu begegnen.
    In den Zeitungen wird man keinen Hinweis auf den »Zwischenfall« finden. Nichts davon drang damals an die Öffentlichkeit. Ohnehin sind die meisten derer, die direkt darin verwickelt waren, tot, und die Regierungen der beteiligten Länder haben wenig Interesse daran, die Sache publik zu machen.
    Weil der »Zwischenfall« in den Medien nicht auftauchte, hat er am Ende gar nicht stattgefunden.
    Das ist seine Geschichte.
     

 
     
     
     
     
     
     
     
     
    Eine Gesellschaft, die alles weiß, weiß nichts.
    Theodor Adorno
     

PHASE 1
1998.20. NOVEMBER KLOSTER
    Der alte Mann nahm mit halbem Bewusstsein das Geräusch des Wagens wahr, der sich aus der Ferne näherte. Er starrte hinaus auf die Umrisse der Berge jenseits der baumbewachsenen Hügel, die Hände auf die steinerne Brüstung gestützt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Er hätte nur wenige Schritte nach rechts tun müssen, und der Schatten des mächtigen Giebeldaches über ihm wäre dem warmen Sonnenteppich gewichen, der das Land bis zum Horizont überzog. Es war ein ausnehmend klarer Tag und der Himmel von jenem Blau, das einen den Weltraum erahnen lässt, und trotz der späten Jahreszeit war es warm wie im Juli. Aber der alte Mann zog die Kühle vor. Die Augen unter den weiß durchsetzten Brauen zusammengekniffen, so dass sie im Gewirr der Faltenrisse kaum auszumachen waren, das Kinn vorgereckt, suchte er Distanz zur Schönheit der Landschaft. Die Zeit war noch nicht reif, um die Stufen der alten Klosterkirche hinunterzugehen, dorthin, wo die Stiefelsohlen einen Zentimeter versinken würden im weichen Gras und Erdreich und man Lust bekäme, auszuschreiten zu den so nahen und doch unerreichbar fernen Bergen. Was den Alten interessierte, ließ sich nicht erwandern. Es war noch hinter den Bergen, und es war nicht das Meer und auch nicht ein noch größeres und weiteres Land, sondern eine Vision.
    Eine Eidechse flitzte den warmen Stein entlang, passierte die Schattengrenze und näherte sich seinen Fingern. Er hoffte, sie würde darüberlaufen. Als er klein gewesen war, hatte er oft stundenlang darauf gewartet, und einmal war es passiert. Einmal nur, aber seine Geduld hatte sich ausgezahlt.
    Der alte Mann seufzte. Wie geduldig würde er diesmal sein müssen? Wie viele Jahre waren noch entbehrlich, um sich in Geduld zu üben?
    Er senkte den Blick zu den Flecken auf seinen Handrücken und erschauderte.
    Ich bin gar nicht so alt, dachte er. Nicht mal sechzig.
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