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Lautlos wandert der Schatten

Lautlos wandert der Schatten

Titel: Lautlos wandert der Schatten
Autoren: Roland Breitenbach
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weiter hinauf. Ein kühler Wind kommt auf;
wir sind 1400 m hoch. Das Bergdorf Foncebadón unterhalb des Gipfelkegels ist
weitgehend zerfallen; nur noch eine Hütte scheint bewohnt, die Kirche kurz vor
dem Zusammenbruch.
     
    Foncebadón
     
    Frisches
Heu und altes Stroh
    in
der winzigen Kirche
    von
Foncebadón.
    Zwei
Schafe in ihr zu Gast,
    zufrieden
unter Kreuz
    und
morschigem Dach.
    Tür
ohne Angel,
    Glocke
ohne Klöppel.
    Letzter
Rauch kräuselt nebenan
    bevor
der Kamin stürzt.
    Dörfer
sterben langsam.
     
    Dörfer
sterben langsamer als Menschen. Doch der Tod trifft überall auf sein Opfer.
Vielfach sind die Legenden überliefert, die sich mit Sterben und Tod auf dem
Pilgerweg beschäftigen: Ein junger Mann aus Paris begegnet mitten in der Stadt
dem Tod. Erschrocken vertraut er sich seinem Pfarrer an, der ihm eine
Pilgerfahrt nach Santiago anrät, um dem Sensenmann zu entgehen. Auf der Höhe
von Foncebadón, dort, wo die Pilger am Cruz de Ferro auf 1504 m Höhe ihre
Steine abwerfen, trifft der junge Mann den Tod wieder. Der sagt: „Jetzt endlich
ist meine und deine Stunde gekommen. Hier an dieser Stelle sollte ich dich nach
dem Willen Gottes heimholen. Hier habe ich auf dich gewartet schon lange Zeit;
wie erstaunt war ich, als ich dich vor Monaten noch immer in Paris sah. Jetzt
ist es gut. Gepriesen sei Gott.“
     

     
    Die
vielen Friedhöfe am Weg, meist in Verbindung mit den Hospitälern und einer
Michaelskapelle, zeigen die reiche Ernte des Todes. Anstrengung, Erschöpfung,
Mangelernährung, Unfälle, Krankheiten, Seuchen und Alter forderten ihren
Tribut. Oft war es ein einsames Sterben unterwegs; dann gab es auch ein
einsames Grab mit einem Kreuz darauf, das bald in Vergessenheit geriet. In El
Acebo finden wir direkt am Friedhof ein Denkmal, das an einen 1987 tödlich
verunglückten Deutschen erinnert; er war mit dem Fahrrad nach Santiago
unterwegs gewesen. Sein Leben hatte sich nach dem Plan Gottes zwei Tage vor
seinem großen Ziel erfüllt.
     
    Für
die verstorbenen Pilger war ein feierliches Begräbniszeremoniell vorgesehen.
Die Kosten übernahmen die Bruderschaften, wenn die Hinterlassenschaft dafür
nicht ausreichte. Klare Vorschriften regelten, was mit dem Besitz des
Verstorbenen zu geschehen habe. König Alfons IX. (1228) bestimmte, daß das Erbe
dreizuteilen sei, falls es kein Testament gebe: Ein Teil war für die Kirche
bestimmt, ein Teil für den König und ein Teil für den Wirt. Wie wir aus alten
Akten wissen, gab es immer wieder Gastwirte, die alle drei Teile für sich
nahmen.
     
    Wir
nähern uns jenem Ort, der unzählige Pilger gesehen hat und ihnen durch eine
eindrucksvolle Geste für immer im Gedächtnis bleiben wird: Stein zu Stein. Im
letzten Anlauf ersteigen wir nach dem verfallenen Bergdorf die letzte Höhe mit
einem großen, künstlichen Steinhügel, aus dem auf einer 5 m hohen Stange das
Santiagokreuz aufragt.
     
    Cruz
de Ferro
     
    Steine.
Millionen aufgehäuft
    in
den Jahrhunderten.
    Kiesel,
Basalt, Granit und Schweiß.
    Hügel
aus Menschenlast
    und
Menschenleid.
    Abladen
am Kreuz, millionenfach
    loslassen,
in den Jahrhunderten.
    Singe,
Vogel,
    singe
erleichtert
    jetzt
wieder dein Lied
    unterwegs.
     
    Auch
wir haben nach altem Brauch einen Kieselstein in die Hand genommen und den Berg
hinaufgeschleppt. Zeit genug, um sich mit dem Stein zu beschäftigen, der immer
schwerer in den Händen wiegt und sich schnell mit unserem Schweiß überzieht.
Drei verschiedene Flechten in Grün, Grau und Gelb haben sich in einem
erbitterten Kampf auf meinem Stein angesiedelt. Wie lange mag es gedauert
haben, bis sich der erste Keimling festsetzen und in kleinen Kolonien
ausbreiten konnte? Oben am Kreuz haben wir den Kiesel zu den Millionen von
Steinen geworfen, die Pilger von tausend und mehr Jahren zusammengetragen
haben. Zeichen menschlicher Last, Zeichen des Loslassens. Vieles, was uns im
Herzen belastet, haben wir mit diesem Stein dem Hügel anvertraut. Da ist ja
noch so vieles in unserem Leben, das wir krampfhaft festhalten, obwohl wir
wissen, wie sehr es uns fesselt. Nur das Loslassen macht uns wirklich frei;
aber wie teuer müssen manchmal diese Erkenntnis und die neugewonnene Freiheit
bezahlt werden!
     
    Das
gehört auch zum geistlichen Gewinn dieses Weges, Schritt für Schritt neue
Erfahrungen zu machen, neue Einsichten zu gewinnen, sich selber zu erneuern,
und wäre es nur durch die Meditation über einen Stein, der eine Zeitlang in
unseren Händen liegt. Noch immer werde ich gefragt:
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