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Lautlos wandert der Schatten

Lautlos wandert der Schatten

Titel: Lautlos wandert der Schatten
Autoren: Roland Breitenbach
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wir Fritz, einen Freiburger auf der Rückreise. Er hat den
ganzen Pilgerweg mit dem Fahrrad gemacht und ist moralisch am Ende. Die
Spannung ist vorbei und er muß jetzt den langen Weg im scharfen Gegenwind
zurück. Es gelingt uns, ihn ein wenig aufzurichten und wir machen uns selbst
wieder auf. Der Wind treibt uns nach Westen. Den betörenden Duft riesiger
Eukalyptuswälder in der Nase kommen wir rasch vorwärts, die Hügel werden
flacher, die Ebenen weiter, der Weg besser. Die Dörfer sind ein wenig
ansehnlicher und behäbiger geworden. Sparsamer Reichtum.
     
    Unsere
Gefühle sind merkwürdig gespalten; wir tauschen uns darüber aus. Alles in uns
drängt uns vorwärts und doch möchten wir innehalten. Auf einmal geht uns alles
zu schnell,
    obwohl
wir in den sieben Wochen viele Pilger überholt haben. Da ist die Erleichterung
und Dankbarkeit über den glücklichen Weg, da sind Erwartung und Hoffnung für
morgen, da ist auch die Angst vor einer Enttäuschung; das alles mischt sich in
die letzten Wegstunden. Gefühle, die sich nicht beschreiben lassen. Also gehen
wir schweigend weiter. Noch 38 Kilometer. Der letzte Tag bricht an.
     
    Wir
sind in Lavacolla, der allen Pilgern bekannten Station vor der Begegnung mit
der Stadt des Apostels, angekommen. In dem kleinen Bach, den wir kaum finden
können, weil er großenteils zugebaut worden ist, haben sich die Pilger von Kopf
bis Fuß gewaschen, „eine Stelle besonders“, wie ein Pilgerschlitzohr schreibt.
Die abgetragene Kleidung wurde verbrannt und neue Kleider wurden angezogen. Dem
Armen verhalf die Bruderschaft der Kathedrale zu einem würdigen Gewand für die
Begrüßung des Apostels. Selbstverständlich gehörte die Beichte in der
Pfarrkirche von Lavacolla zur Vorbereitung auf den Einzug in Santiago dazu;
auch alle Sünden, die sich unterwegs angesammelt hatten, sollten im Bad der
göttlichen Gnade und seiner Barmherzigkeit weggeschwemmt werden. Der Apostel
sollte die Wallfahrer nach so langem Weg gereinigt an Leib und Seele empfangen
können. Wer die Nacht noch in Lavacolla blieb und die Sehnsucht vergrößern
wollte, schlief auf dem Fußboden der Rochuskapelle.
     
    Auch
wir fühlten uns schmutzig durch den Weg, innen wie außen. Doch zum Waschen nach
alter Sitte, zu einer Beichte ist keine Gelegenheit. Wir hoffen, daß uns der
Apostel auch so annimmt, wie wir sind. Also dann weiter. Ein wenig außer Atem
geraten wir schon als wir auf den Monte Gozo steigen, den Berg der Freude. Von
hier aus sehen wir im Dunst des Nachmittags zum ersten Male die Stadt. Wir
stehen und sehen. Es fällt kein einziges Wort. Ein Händedruck. Wir sind fast am
Ziel.
     
    Berg
der Freude
     
    Monte
Gozo, Montjoie,
    Berg
der Freude.
    Auf
die Knie, Pilger!
    Da
ist das Ziel.
    Könige
der Wallfahrt
    seid
ihr, Leroy.
    Gereinigt
vom Weg,
    gereinigt
durch die Wasser.
    Leicht
wird der Schritt.
    Dios ayuda.
    Stimmt
ein Lied an,
    das
Te Deum singt.
    Wir
sind endlich da.
    Dios
ayuda y Santiago.

19
    Wer mit allem Tun und Sinnen
    immer auf das Morgen starrt,
    wird die Zukunft nie gewinnen
    und verliert die Gegenwart

E s
ist der 42. Tag unserer Pilgerfahrt. Am späten Nachmittag trifft der goldene
Strahl der Sonne auf die großartige Barockfassade der Kathedrale. Golden wirft
von ganz oben der Pilgerapostel Jakobus uns den Gruß zurück, den wir ihm
entbieten. Wir zwei stehen wie erstarrt auf dem riesigen Platz, der fast
menschenleer ist. Es gibt keinen Rummel und keine Verkaufsbuden, wie wir
befürchtet hatten, kein Händlergeschrei, keine Belästigung durch Bettler,
keinen Touristentrubel um diese Zeit, keine fromme Musik. Jakobus heißt uns
ganz einfach willkommen. Wir sind da. Ja, wir sind angekommen.
     

     
    Dann
steigen wir vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, die doppelläufige Freitreppe
hinauf und stehen vor dem Portico de la Gloria des Meisters Mateo aus dem Jahr
1122. Wir legen die fünf Finger der rechten Hand in den Lebensbaum in der
Mitte, wie vor uns Generationen von Pilgern. Sie haben ihre tiefen Spuren im
Stein hinterlassen, wie die fünf Wunden Jesu als tiefe Löcher im hellen Marmor.
Jeder der Tausenden hat nur den Bruchteil eines Stäubchens mitgenommen und sich
doch tief und unvergeßlich eingegraben in das Portal zur Vorhalle des Himmels.
     
    Eine
seltsame Rührung ergreift uns, eine Bewegung, die den Kopf mit dem Herzen
verbindet und uns das Wasser in die Augen treibt. Wir lassen uns Zeit. Dann
gehen wir langsam durch die lichterfüllte Halle nach vorne. Ein
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