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Lautlos im Orbit (1988)

Titel: Lautlos im Orbit (1988)
Autoren: Klaus - Lautlos im Orbit Frühauf
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damit an, daß die Leute Türen und Fenster verschlossen und daß Philipp eine Hexe sah, mitten in Calman’s Edge und mitten auf der Straße, direkt gegenüber von Barnaby’s Drugstore.
    Die Hexe ging mit einer Einkaufstasche am Arm zwischen den Leuten hindurch, und seltsamerweise verblüffte Philipp nicht, daß sie hier mitten im Ort war, sondern daß die Leute sie überhaupt nicht beachteten. Dabei merkte man ihr ganz genau an, daß sie eine Hexe war. Sie sah aus, als wäre sie soeben einem Märchenbuch entstiegen. Sie ging gebeugt und tastete mit einem Knotenstock vor sich hin, sie hatte eine mächtige Hakennase und trug ein Kopftuch von nicht bestimmbarer Farbe. Wenn Philipp sich näher herangewagt hätte, dann hätte er bestimmt auch die Warze auf ihrer Nase sehen können. Alle Hexen haben diese Warze. Und alle Hexen tragen schwarze Kater auf der Schulter. Auch diese. Es war ein geradezu gigantischer Kater, der ihr vorn und hinten bis fast auf den schäbigen Gürtel herabhing.
    Philipp war furchtbar erschrocken. Er blieb stehen und starrte der Hexe nach, die seelenruhig die Straße hinabging. Die Passanten mußten einen Bogen um ihn machen. Manche streiften ihn, und andere schubsten ihn zur Seite. Doch niemand beschwerte sich oder schimpfte mit ihm. Sie liefen verbissen schweigend an ihm vorbei. Die Hexe beachteten sie nicht.
    Schließlich blieb ein Mann stehen und berührte Philipp am Arm. »Was ist denn, Junge?«
    »Da!« sagte Philipp. »Da!« Und er deutete auf die Hexe. »Was siehst du dort?« fragte der Mann.
    Phil blickte auf. Es war ein Arbeiter aus der Brauerei, in der auch Pa beschäftigt war. Phil kannte ihn eigentlich recht gut, aber er konnte sich nicht erinnern, ihn jemals mit so verstörtem Gesichtsausdruck gesehen zu haben.
    »Die Hexe«, flüsterte Philipp. »Sehen Sie denn die Hexe nicht, Sir?«
    Der Mann stöhnte auf. Und dann sagte er etwas, was Philipp nicht sofort begriff. »Mein Gott!« sagte er. Und: »Du auch?« Danach beugte er sich noch weiter herab und redete leise und schnell. »Geh auf dem kürzesten Weg nach Hause, Junge. Und berichte deinen Eltern, was du gesehen hast. Du mußt sofort zu einem Arzt. Sag deinem Vater…«
    »Pa ist in der Brauerei, Sir. Sie kennen ihn doch. Wissen Sie denn nicht, daß er den ganzen Tag…«
    »Sag mir deinen Namen, mein Junge!«
    »Philipp Barrymore, Mister Weyman.«
    »Ah ja. Du bist der kleine Barrymore«, sagte Mister Weyman und blickte durch ihn hindurch. Dann gab er ihm einen Schubs. »Aber nun mach, daß du nach Hause kommst. Und bring deine Mutter dazu, mit dir zu einem Arzt zu gehen.«
    Phil beeilte sich auf dem Heimweg. Er hatte das sichere Gefühl, daß es wirklich dringlich war.
    Als Ma hörte, daß er eine Hexe gesehen hatte, warf sie ihre Hausarbeit hin und sah ihm lange und forschend in die Augen. Aber sie sagte nicht: Erzähl mir keine Märchen, Junge!, sondern sie nahm ihn wortlos an der Hand und zog ihn mit sich zur Praxis Doktor Sheffields in der Landers Road. Sie vergaß sogar, ihre Schürze abzulegen, sie ging so auf die Straße, wie sie am Küchenschrank gestanden hatte.
    Die Praxis Doktor Sheffields befand sich direkt über einem Pub, der um diese Tageszeit nur wenig besucht war, jedenfalls saßen im Wartezimmer mehr Patienten, als Gäste im Pub waren. Philipp befürchtete, stundenlang warten zu müssen, aber es ging erstaunlich zügig. Der Doktor rief immer fünf Patienten auf einmal ins Ordinationszimmer, und sie kamen einer nach dem anderen innerhalb von zehn Minuten wieder heraus.
    Phil erinnerte sich nicht, daß es bei Doktor Sheffield jemals so schnell gegangen war.
    Als er mit vier anderen, einem Mann und außer Ma noch zwei fremden Frauen, an der Reihe war, mußten sie sich nebeneinander aufstellen und erzählen, was sie gesehen hatten.
    Der Mann war einem Löwen begegnet, ebenfalls mitten in Calman’s Edge, einem Löwen, an dessen Schwanzende ein Schlangenkopf gezüngelt hatte, eine der Frauen war von einem ungeheuer häßlichen Gnom belästigt worden, der ihr unter die Röcke gekrochen war, und die andere hatte sich in ihrem Haus plötzlich einer mindestens dreißig Meter hohen Wendeltreppe gegenübergesehen, obwohl es sich bei diesem Haus um einen Flachbau handelte, in dem es nie eine Treppe gegeben hatte. Philipps Hexe war also nichts, womit er Doktor Sheffield hätte aus der Fassung bringen können.
    Nur Ma sagte: »Ich habe lediglich meinen Jungen hierhergebracht, Doktor. Besonderes gesehen habe ich
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