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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose
Autoren: Sonia Marmen
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versuchte, mich zurückzuhalten, doch ich wehrte ihn ab und warf mich schluchzend über mein totes Kind.
    Ich weiß bis heute nicht, wie lange ich über ihm lag, doch es müssen einige lange Minuten gewesen sein. Als ich ein wenig klarer denken konnte, bemerkte ich, dass rund um mich Stille herrschte. Ich hob den Kopf und schluchzte ein letztes Mal. Die Männer umstanden mich schweigend und vor Verblüffung verstummt. Einige Augenblicke verstrichen in tiefer Stille, und dann legte sich eine Hand auf meine Schulter, drückte sie und versuchte mich aufzuheben. Ich widersetzte mich, doch die Hand gab nicht auf. Liam beugte sich über mich.
    »Caitlin…«
    Sein Blick wirkte besorgt und verständnislos. Woher hätte er es auch wissen sollen? Wie hätten er und seine Leute auch ahnen können, dass sie meinen Sohn getötet hatten?
    »Es ist vorbei«, sagte er leise. »Komm, wir gehen…«
    »Das ist Stephen … Er ist mein Kind, Liam«, flüsterte ich und klammerte mich an ihn.
    »Alles ist vorüber. Komm…«
    »Ich sagte doch, er ist…«
    »Er ist tot, Caitlin! Er wird dir nichts mehr tun!«, erklärte Liam, umfasste meine Schultern und zog mich von der Leiche weg.
    »Du hörst mir nicht zu! Ich sagte, das ist Stephen!«, schrie ich und stieß ihn grob zurück.

    Er erstarrte und musterte mich zweifelnd. Dann, langsam, richtete er den Blick auf Stephens Körper.
    »Der Sohn von…?«
    Er wagte den Namen nicht auszusprechen und wirkte, als wäre er zu Stein erstarrt.
    »Du meinst …? Bist du dir sicher? Also…«
    Ich vermochte nicht zu antworten und nickte einfach. Seine Begleiter entfernten sich verlegen ein Stück. Liam betrachtete die Leiche noch einige Augenblicke lang. Dann wandte er sich ab und sah mich an. In seinem Blick stand eine Mischung aus Entsetzen und ungläubigem Staunen. Er öffnete den Mund, brachte aber nur ein leises Stöhnen hervor.
    »Er … war mein Sohn, Liam…«
    »Herrgott…«
    Wie gelähmt vor Verblüffung ließ er sich neben mir niedersinken.
    »Herrgott…«, wiederholte er noch einmal leiser, als begreife er jetzt erst richtig, was ich gesagt hatte.
    Ich spürte, wie die Männer mich ansahen, und ganz besonders spürte ich Duncans fragenden Blick. Ich kauerte wieder neben Stephens totem Körper nieder, strich über sein Haar und seine feuchte Stirn. Ich zitterte heftig und kämpfte gegen die Tränen. Schließlich kam Liam näher und zog mich an sich.
    »Komm, a ghràidh …«
    Er zwang mich, dem Toten den Rücken zuzudrehen, und hielt mich fest. Mir fiel es schwer, mich von Stephens noch warmem Körper zu lösen. Doch er nahm mich in die Arme und drückte mich fest. Und dort weinte ich.
    Die Männer hoben den Körper auf. Ich sah ihnen zu, als befände ich mich in weiter Ferne von dieser Szene und von mir selbst. Dann gingen sie und nahmen Stephen mit.
    »Du hättest nichts mehr für ihn tun können«, flüsterte Liam und streichelte meinen Rücken. »In dem Moment, als er den Abzug gedrückt hat, um den Prätendenten zu erschießen, hat er selbst über sein Los entschieden.«
    »Ich weiß … Ich möchte, dass er christlich begraben wird, auf einem Friedhof.«

    »So soll es geschehen.«
    »Und du wirst mich dorthin führen…?«
    »Einverstanden.«
    Nun, da meine Schreckensstarre nachließ, begann meine Hand entsetzlich wehzutun. Ich ließ mich von meinem körperlichen Schmerz überwältigen, um den in meinem Herzen zu übertönen. Liam untersuchte die Wunde und legte mir einen vorläufigen Verband an, indem er ein Stück Stoff von seinem Hemdsaum abriss. Völlig unsinnigerweise fragte ich mich, wie ich es schaffen sollte, ihn mit dieser Hand zu verbinden. Er umarmte mich, und ich schmiegte mich in seine Wärme und ließ mich von seinen zärtlichen Worten wiegen. Nach einiger Zeit ließ mein Zittern nach. Liam bedeckte mich mit Küssen und schenkte mir seine Liebe und Zärtlichkeit, und der Schmerz ließ nach.

    In der kleinen Stadt war wieder Ruhe eingekehrt. Ich saß auf den Stufen, die zum Kai führten, und sah zu, wie die Flut über den Sand schwappte und ihn tränkte. Bebende Reflexe warfen das Licht des Mondes zurück. Ich leerte das Glas Branntwein, den zu trinken Liam mich gezwungen hatte. Der starke Alkohol hatte mir gut getan und mich beruhigt. Jetzt konnte ich klarer denken und die Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ich hatte Stephen zur Welt gebracht, und nun war er in meinen Armen gestorben. Ich hatte den Mann, der mein Sohn gewesen war, nicht gekannt.
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