Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
dem Rasierer den
    kitzligen seitlichen Strich zu machen. Er versucht sich
    zu rasieren, ohne sein Gesicht zu sehen, das niemals das
    Gesicht gewesen ist, das er sich gewünscht hätte – zu viel
    Nase, nicht genug Kinn. Eine einladende Schwäche und
    dennoch eine scharfäugige Wachsamkeit. In letzter Zeit zie-
    hen Falten die Mundwinkel herunter, und die Augenlider
    sind schrumplig wie bei einem Wüstenreptil, sodass sich
    morgens die Falten verfangen und an den Wimpern hängen
    bleiben. Er hasst das ihm vertraute Gefühl, etwas im Auge
    zu haben, das sich nicht fassen lässt, aber stört. Pollen. Eine
    Wimper. Ein geplatztes Äderchen. Hinter ihm, durch die
    isolierende Wand des Waldes, künden Motorengeräusche,
    Fehlzündungen und das Piepen rückwärts fahrender Last-
    wagen von dem kümmerlichen, ein oder zwei Blöcke um-
    fassenden Geschäftsviertel von Haskells Crossing; es ist
    hörbar, aber nicht sichtbar von seinem Haus in der grünen
    Verschwiegenheit auf der Anhöhe. Obwohl er die Lichter
    der Stadt von den oberen Fenstern im Haus deutlich sehen
    kann, hat er in der Stadt nie einen Punkt gefunden, von
    dem aus sein Haus sichtbar wäre. Das e
    g fällt ihm, es ist wie
    sein Bewusstsein – unsichtbar, aber im Mittelpunkt.
    Als Kind hatte er angenommen, dass die Welt irgendwie
    durch sein Erwachen in Bewegung gesetzt wurde. Was pas-
    sierte, ehe er aufwachte, war wie die Zeit vor seiner Geburt,
    eine Leere, über die er nicht nachdenken konnte. Es über-
    rascht ihn immer, wie früh in kleinen und ebenso in großen

    15
    Städten die Morgenaktivitäten beginnen, nicht nur bei den
    sprichwörtlichen, Würmer pickenden Vögeln, sondern auch
    bei den Menschen – die Pendler, die den Zug um 6.11 Uhr
    erreichen müssen, der Besitzer der Obsthandlung in der
    Stadt, schon zurück vom Großmarkt beim Callahan-Tun-
    nel mit seinem Lastwagen, die jungen joggenden Mütter,
    die ihre Meilen schon hinter sich haben, wenn sie mit ihren
    Kindern an der Bushaltestelle stehen, die Taugenichtse der
    Stadt, die schon auf der Bank am Kriegerdenkmal Posten
    bezogen haben, dort, neben dem alten Backsteinbau der
    Feuerwache, auf der anderen Seite der Hauptstraße und
    gegenüber der Bäckerei. Der Bäcker, ein schlecht rasierter
    Frankokanadier mit seiner von zu vielen Zigaretten einge-
    sunkenen Brust, ist schon seit vier Uhr auf und verbreitet
    in der kalten Luft das Aroma von backenden Croi s
    s ants,
    Zimtbrötchen und Blaubeer-Muffins.
    Owen sieht das alles vor seinem geistigen Auge, wäh-
    rend er den Rest der Rasierseife abschabt und dabei sein zu
    kleines Kinn vorstreckt, um die schlaffen Falten darunter
    zu straffen. Die Feuerwache, wenn Sie es wissen wollen, ist
    ein mit Ornamenten versehenes Gebäude aus dem neun-
    zehnten Jahrhundert und fast zu schmal für den modernen
    Feuerwehrwagen, den die Stadtältesten von Cabot City,
    wovon Haskells Crossing ein Außenbezirk ist, kürzlich er-
    worben haben. Nach jedem Notruf, der sich gewöhnlich als
    falscher Alarm entpuppt, stößt der Wagen unter aufgereg-
    tem Piepen rückwärts in seine Bucht, von der an den Seiten
    nur wenige Zentimeter übrig bleiben. Das Kriegerdenkmal
    ist eine verlängerbare Reihe von Namen in beweglichen
    weißen Lettern auf einer schwarzen, mit Schlitzen verse-
    henen Tafel hinter Glas: die Toten von Haskells Crossing
    bis zurück zu den Kriegen gegen die Franzosen und die In-
    16
    dianer. Die größte Gruppe fiel im Bürgerkrieg, die nächst-
    größte im Zweiten Weltkrieg. Unter dem Koreakrieg (zwei
    Namen) und der Intervention in Vietnam (vier) und der
    Aktion gegen den Irak 1991 (ein einziger Name, ein ge-
    meiner Soldat, der durch ein Versehen erdrückt wurde, als
    er half, auf dem saudi-arabischen Militärflughafen Jabayl
    einen schweren M1A1 Abrams-Kampfpanzer von sieben-
    undsechzig Tonnen aus dem Rumpf eines Cargo-Flugzeu-
    ges vom Typ C-5 Galaxy zu entladen) ist noch reichlich
    Platz für künftige Opfer künftiger Konflikte – vernünftige
    neuenglische Sparsamkeit: Owen schätzt sie. Er hat hier
    seine endgültige Kleinstadt gefunden.
    Die erste lag in Pennsylvania: die Gemeinde Willow,
    viertausend Einwohner, ein «Straßendorf», das beim Über-
    gang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert
    aus einem am Weg gelegenen Gasthaus hervorging, um-
    geben von Feldern, auf denen Mais und Tabak angebaut
    wurden. Die Straße, die über fünfundvierzig Meilen ei-
    nem in südöstlicher Richtung fließenden Fluss folgte, er-
    reichte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher