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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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Güte, es ist
    schon nach sieben Uhr.»
    Je älter sie werden, desto mehr reden sie wie Kinder. Ju-
    lias Stimme dringt nach oben, ein wenig vorwurfsvoll, halb
    scherzhaft: «Du schläfst immer bis

    acht, seit du nicht mehr
    pünktlich am Zug sein müsse.»
    «Liebling, wie du lügst! Ich schlafe niemals länger als
    bis sieben. Ich wünschte, ich könnte es», redet er weiter,
    ist sich allerdings nicht sicher, ob sie nicht von der Treppe
    weggegangen ist und ihn gar nicht mehr hören kann, «aber das
    12
    ist etwas, das mit em
    d
    Alter kommt, man steht mit den
    Vögeln auf. Warte nur, bis es dich trifft.»
    Dies ist ehelicher Schwachsinn – siehe Codes erbsen-
    großer Hirne! Wenn der Tag ein Computer wäre, denkt er,
    dann ist dies das Boot-up, das Wiederladen des Main Me-
    mory. Julia schläft tatsächlich weniger als er (wie schon sei-
    ne erste Frau, Phyllis), aber dass sie fünf Jahre jünger ist, ist
    ihm immer eine Quelle des Stolzes und des sexuellen Rei-
    zes gewesen, ähnlich wie der Anblick ihrer Zehen vorn in
    ihren blauen Flip-Flops. Was er auch gern sieht, sind unter
    ihrem Morgenmantel ihre rosa Fersen, wenn sie sich ent-
    fernen, die senkrechten Stränge ihrer Achillessehnen, ein
    schneller, fester Schritt nach dem andern , die Füße nach
    außen gedreht, wie Frauen es tun.
    Sie führen dieses Gespräch, während er mit schmerzen-
    der Blase vor der Tür seines Badezimmers steht, bei der
    Treppe, die zur Küche hinunterführt. Das Bild seiner ge-
    liebten Julia, wie sie nackt und tot in seinem Traum dalag,
    und das Traumempfinden von Schuld, das ihren Suizid in
    Wirklichkeit zu einem von ihm begangenen Mord machte,
    sind noch lebendiger als die täglichen Fakten im Wach-
    sein – die Tapete mit den sepia Rosen und dem stumpf
    metallischen Glanz, der neue Teppich im Flur mit den fri-
    schen beigefarbenen Noppen und der dicken, federnden
    Teppichunterlage, der bevorstehende Tag mit den Stun-
    den, die e
    s wie Sprossen auf einer alten, gefährlichen, split-
    ternden Leiter zu erklimmen gilt.
    Während Owen sich vor dem am Fenster angebrachten
    Spiegel rasiert, wo sein lappiges und von der Sonne beschä-
    digtes Gesicht, grausam vergrößert, das mitleidlose Licht
    frontal entgegennimmt, hört er die Spottdrossel, wie sie
    auf ihrem Lieblingszweig ganz oben in der höchsten Zeder

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    eine aufregende, endlose Schimpftirade gegen irgendet-
    was, eine nebensächliche, chronische Routineangelegen-
    heit von sich gibt. Alles Leben da draußen – die Vögel, die
    Insekten, die Blumen, die verstohlene Tierwelt der Strei-
    fenhörnchen und Waldmurmeltiere, die aus ihren Schlupf-
    löchern huschen und wieder darin verschwinden, als könn-
    te im nächsten Moment eine Schrotflinte sie zerfetzen – hat
    sein eigenes Netzwerk für gemeinsame Kümmernisse und
    Kommunikation; für sie ist die Menschenwelt kaum mehr
    als eine flirrende Randerscheinung, ein unerforschliches
    Knistern, eine intermittierende Interferenz, die selten
    todbringend ist und keine Beziehung zu dem organischen
    Überfluss (dem Abfall, den Gärten) erkennen lässt, den die
    menschliche Spezies an den Tisch der Natur bringt. Sie beachten uns nicht, denkt Owen. Wir sollten Götter für sie sein, aber sie haben nicht unsere Fähigkeit zur Verehrung – zur
    Voraussicht und zu den Schrecken und der verqueren geis-
    tigen Kriecherei, wie sie die Voraussicht mit sich bringt,
    die Erfindung eines Lebens nach dem Tod eingeschlossen.
    Tiere unterscheiden nicht zwischen uns und den anderen
    Geschöpfen oder zwischen uns und den Steinen und den
    Bäumen, alle mit ihrem eigenen Geruch und ihrer eige-
    nen Bedeutung für den Existenzkampf. Die Erde bietet
    Skorpionen und Waldmurmeltieren und Quintillionen von
    Ameisen Zuflucht, die Sterne leiten die kanadischen Wild-
    gänse und arktischen Seeschwalben, die Rauchschwalben
    und die Chrysippusfalter bei ihren immensen jährlichen
    Migrationen. Wir sind nicht mehr als Punkte unter ihren
    Flügeln, unsere Städte sind übel riechende und unfrucht-
    bare Unterbrechungen in dem Diskurs von Raubtier und
    Beute. Nein, keine Unterbrechungen, denn viele Gattun-
    gen akzeptieren unsere Städte als Habitat, nicht nur die
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    Ratten im Keller und die Fledermäuse im Dachgestühl,
    sondern auch die Mäusebussarde und Tauben auf den
    Kanten der Wolkenkratzer, und neuerdings die Rehe, die
    unverfroren und hilflos durch unsere Vorortgärten staksen,
    gehätschelt und gehasst.
    Owen spannt die Unterlippe, um mit
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