Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel
Autoren: Lukianenko Sergej
Vom Netzwerk:
Abschied drücken.
    Keine der beiden Entscheidungen wäre richtig.
    »Leonid?«
    Auf mich kommt ein Mann zu, den ich nicht kenne. Er ist klein und hat ein Durchschnittsgesicht, trägt alte Jeans und ein schlabbriges Sweatshirt. Ein Allerweltstyp, der im virtuellen Raum nichts verloren hat, sondern besser nach einem billigen Shigulewskoje anstehen sollte. Aber er kennt meinen Namen. Also ist er ein Feind.
    »Wer sind Sie?«, frage ich. »Schickt Al Kabar Sie?«
    »Leonid, du hast mich schon in einer anderen Hülle gesehen.« Der Mann blickt mir unverwandt in die Augen. »Ohne Gesicht.«
    »Dmitri?«
    »Ja. Es ist doch in Ordnung, wenn wir uns duzen?«

    »Du Arschloch!« So lässt sich die Frage auch beantworten.
    »Leonid, ich möchte mit dir reden. Nur fünf Minuten.«
    Ob Dima Dibenko tatsächlich so aussieht? Ich kenne ein altes Foto von ihm, aber da war er noch ziemlich jung. Sollte er wirklich nur ein unscheinbarer Durchschnittstyp sein? Ein Milchbubi? Und so einer hat sich das Deep-Programm ausgedacht und die Welt in die Tiefe versenkt? Millionen gescheffelt und sich einen Anteil an Microsoft und AOL gesichert? Dieser Typ soll als Erster verstanden haben, dass der Loser nicht von unserer Erde stammt?
    »Aber nur fünf Minuten.«
    »Lass uns ein Stück gehen, Leonid!«
    Seine Stimme passt irgendwie nicht zu seinem Äußeren. Falls er je bitten konnte, hat er es inzwischen verlernt.
    Wir umrunden die Kirche, und Dibenko schließt mit einem Schlüssel von bizarrer Form eine Pforte auf, die in den Garten führt. Hier ist es ruhig und friedlich. Weiden, Pappeln, gepflegte Wege, Steine, die mir bekannt vorkommen.
    »Scheiße«, brumme ich.
    »Ja, ein Friedhof«, murmelt Dibenko. »Ich … ich bin gern hier. Dieser Ort beruhigt mich irgendwie … animiert mich zum Philosophieren.«
    Wahrscheinlich ist das gar nicht so ungewöhnlich. Ich lasse meinen Blick über die Grabsteine und die Wege zu einer Frau gleiten, die weiter hinten vor einer kleinen Büste im Gras sitzt und die Hände vors Gesicht presst. Sie
leidet nicht wirklich, ihre Tränen sind designt, sie bildet das elektronische Äquivalent zu den marmornen Engeln.
    Die virtuelle Welt, das ist das Leben. Aber Leben ist ohne Tod nicht möglich. Hier begraben User ihre Freunde, die nie wieder in die Tiefe eintauchen, den VR-Helm nie wieder aufsetzen.
    »Er hat an ein Wunder geglaubt« lautet die knappe Inschrift auf einem Grabstein in der Nähe. Es klingt wie ein Fluch.
    Verzeih, du Unbekannter. Du hast an ein Wunder geglaubt und bist in die Farbenpracht der virtuellen Welt gesprungen. Nun ruht die Erinnerung an dich hier, während irgendwo in der echten Welt Unkraut dein Grab überwuchert. Deine Freunde opfern einen halben Dollar und kommen hierher, die Erde, die deine Asche aufgenommen hat, gebiert neues Leben. Doch vielleicht sollten deine Freunde lieber ein oder zwei Stunden ihres Lebens opfern, um Wodka an deinem richtigen Grab zu trinken?
    Das ist Freiheit. Und ich habe nicht darüber zu richten.
    »Also, Dima, was willst du?«, komme ich zur Sache.
    Dibenko hat rote Augen, als sei er übermüdet, sein Gesicht wirkt verknittert. Er hat mich in ein Wunder reingezogen, das mich gar nicht braucht, er ertränkt Diver wie junge Katzen. Aber er hat diese Welt geschaffen, und deshalb bin ich es ihm schuldig, ihm zuzuhören.
    »Ich frage dich gar nicht erst, wie du entkommen bist, Ljonja«, fängt Dibenko an. »Offenbar hat am Ende doch jemand etwas springenlassen …«
    »Ach ja? Und wofür?«

    »Für deinen Verrat.« Dibenko sieht mir fest in die Augen. »Das hörst du nicht gern, was? Wie würdest du das Ganze denn bezeichnen? Du hast uns alle, alle Menschen, die heute leben, verraten! Dabei hattest du es schon geschafft! Du bist sein Freund geworden! Ich habe gewusst, dass du dazu imstande bist. Nur deshalb habe ich dich angeheuert! Dich und niemanden sonst! Anscheinend war das ein Fehler. Sicher, ich konnte dir nicht viel bieten …«
    »Ist dir eigentlich klar, wofür die virtuelle Welt steht?«
    »Für Freiheit!«
    »Was wirfst du mir dann vor? Wir haben nicht das Recht, etwas vom Loser zu verlangen! Geht das nicht in deinen Kopf?!«
    »Warum nicht?« Dibenko lehnt sich gegen den Grabstein des Wundergläubigen und grinst. »Gut, auf Formeln und Skizzen können wir verzichten … ebenso auf Impfstoffe und Rezepte für eine gerechte Gesellschaft. Aber er hätte uns doch wenigstens Hoffnung geben können! Uns! Allen! Seine Ankunft heißt doch: Alles wird
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher