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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel
Autoren: Lukianenko Sergej
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eines anderen Raums? Pah! Was für eine Rolle spielt das schon? Da er ein Lebewesen ist!
    Ich gehe die Straße hinunter, ohne ein Taxi des Deep-Explorers anzuhalten. Ich bin im russischen Viertel, das ich in- und auswendig kenne, ich werde zu Fuß nach Hause gehen. Bevor der Loser uns verlässt, muss ich ihn verstehen. Bis in die kleinste Einzelheit hinein. Um das richtige Wort, die richtige Geste zu finden.
    Das Kirchenviertel mit seinen vergoldeten Kuppeln der orthodoxen Kirchen, den Gotteshäusern der Katholiken, den bescheidenen Synagogen und den Moscheen der
Moslems. Aber auch mit der filigranen Kirche der Tjuriner, der schwarzen Pyramide der Satanisten und der höhnisch alles überragenden Leuchtreklame eines Pubs, in dem sich eine Sekte von gutmütigen und zu Fettleibigkeit neigenden Pichelbrüdern trifft.
    Wie viel hätte ich dir zeigen können, Loser. Zoos, in denen Stellersche Seekühe und Mammuts leben, Leseclubs, in denen über kluge und gute Bücher gestritten wird, Ausstellungen von Raumdesignern, in denen neue Welten entstehen, eine Konferenz, bei der die Ärzte aus der ganzen Welt zusammenkommen, um einen Kranken aus dem hintersten Fleckchen unserer Erde zu behandeln. Man hätte uns natürlich nicht ohne weiteres eingelassen, aber ich hätte einfach die Tür aufgebrochen, wir hätten uns ganz ruhig verhalten und bloß zugeschaut, wie der amerikanische Anästhesist und der russische Chirurg über die Operation eines schwarzen Kumpels aus Zaire diskutieren … Ich hätte dich in eine Oper mitnehmen können, wo jeder Musiker aus einem anderen Land stammt, und zu einer Theateraufführung, wo jeder Zuschauer am Stück teilnimmt. In den Kirchen hätten wir uns vor allen Göttern verbeugt und vergessen, dass sie, die Götter, grausam sind. Wir hätten kleinen Kindern zugucken können, die in »echten« Rennwagen herumkurven, und Mitleid mit den Leuten von Greenpeace haben können, die auf den europäischen Autobahnen Igel retten. Einen ganzen Monat hätten wir allein in der Gemäldegalerie Deeptowns verbringen können, so lange brauchst du nämlich, wenn du dir die Eremitage, den Prado, die Tretjakow-Galerie und den Louvre ansehen willst. Da hättest
du doch wenigstens einen Tag opfern können – statt immer nur unter dem purpurroten Himmel vom Labyrinth zu hocken. Im Studentenviertel hättest du einem Erstsemestler aus Wologda helfen können, die Geheimnisse der Festigkeitslehre zu durchdringen, während ich einem kanadischen Künstler erklärt hätte, warum er einen Herbstwald nicht mit hoher Auflösung gestalten sollte. So schlecht ist sie nicht, diese Welt. Diese Tiefe . Es gibt in ihr nicht nur »wilden Sex und Schlägereien«. Bin ich vielleicht schuld daran, dass dein Weg dich durch die Kampfarenen und Bordelle geführt hat, dass du gejagt worden bist und nicht wusstest, was dir als Nächstes bevorsteht?
    Gut, wahrscheinlich war das kein Zufall. Schließlich hast du deinen Weg selbst gewählt. Das Labyrinth, Stars & Planets, die Vergnügungen jeder Art und das Lórien der Elben. Du hast die Tiefe in dich aufgenommen, um mir – nicht dir – zu demonstrieren, wie sie wirklich ist. Um die Intoleranz, Dummheit und Aggressivität zu entlarven, die wir in uns tragen. Dabei weißt du genauso gut wie ich, dass die virtuelle Welt nicht nur aus diesen Komponenten geschaffen ist.
    Trotzdem behältst du am Ende leider Recht, Loser. Man darf eine Welt nicht allein anhand ihrer Qualitäten beurteilen. Sonst wäre der Faschismus nur die Blütezeit der Technik, der schnittigen Flugzeuge und mächtigen Motoren  – und nicht auch der rauchenden Schornsteine in den Konzentrationslagern und der Seife aus dem Fett der Menschen.
    Du hast dein Urteil gefällt und erklärt, dass unsere Welt schlecht ist.

    Dürfen wir dir das übelnehmen?
    Dürfen wir uns wirklich an die Brust schlagen und ausrufen: »Wir sind gut«?
    Aber du kannst – du darfst – nicht nur diesen Eindruck mitnehmen! Du darfst dich nicht nur an den menschlichen Schmutz, die Schönheit menschenleerer Berge und die Technologie, die dem Laster Vorschub leistet, erinnern! Was hätte unser Leben in der Tiefe denn dann für einen Sinn? Was wären wir denn dann wert?
     
    Ich stehe vor der Tür einer katholischen Kirche, einem prachtvollen und erdrückenden, großartigen und lächerlichen Bauwerk. Ich könnte hineingehen und mich an jenen alten Gott wenden, den es nicht gibt. Oder ich könnte nach Hause zurückkehren und dem Loser die Hand zum
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