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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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Mutter weinen, doch immer stand die Mutter am nächsten Morgen auf, wusch sich das Gesicht und ging arbeiten, als sei nichts
     geschehen.
     
    Dann kamen die Kriegsstürme wieder und trieben Mutter und Kind in ein anderes Lager, und hier war tatsächlich der Vater. Es
     war ein ähnliches Lager wie das erste, nur größer und furchterregender, denn hier gab es außer Ukrainern noch viele andere
     Leute, und die Wächter trugen Peitschen. Und in diesem Lager geschah etwas so Schreckliches, dass es besser ist, es zu vergessen,
     besser, gar nicht erst zu wissen, dass es überhaupt geschehen war.
     
    Und plötzlich war kein Krieg mehr, sondern Frieden. Die kleine Familie bestieg ein riesiges Schiff und fuhr über das Meer
     in ein anderes Land, wo die Menschen eine komische Sprache sprachen, und auch wenn sie dort noch immer in einem Lager wohnten,
     gab es doch mehr zu essen, und alle waren freundlich zu ihnen. Und wie um zu feiern, dass jetzt Frieden auf der Welt herrschte,
     bekam die kleine Familie noch ein zweites Kind. Die Eltern nannten das Baby Nadeshda |350| , nach den beiden Nadeshdas, die sie in der Ukraine hatten zurücklassen müssen, und weil Nadeshda »Hoffnung« bedeutet.
     
    Das Friedenskind war in einem Land zur Welt gekommen, das gerade siegreich den Krieg überstanden hatte. Obwohl die Zeiten
     nicht leicht waren, waren alle Menschen voller Hoffnung. Wer arbeiten konnte, arbeitete für das Wohlergehen aller. Man sorgte
     für die, die in Not waren, und die Kinder bekamen Milch, Orangensaft und Lebertran, damit sie groß und stark werden konnten.
    Das Friedenskind verschlang alles, was man ihm vorsetzte, und wurde eigensinnig und rebellisch.
    Das Kriegskind wurde zu meiner großen Schwester.

|351| 31.
Ich grüße die Sonne
    Der Gebäudekomplex der Seniorenresidenz Sunny Bank liegt am südlichen Stadtrand von Cambridge in einer ruhigen Sackgasse.
     Es ist eine moderne Zweckbautensiedlung mit fünfundsechzig Wohnungen und Einzelbungalows inmitten einer gepflegten Gartenanlage
     mit Rasenflächen, alten Bäumen, Rosenbeeten und sogar einer Eule. Es gibt einen Gemeinschaftsraum, wo die Bewohner zusammen
     fernsehen (Vater verzieht bei diesem Gedanken nur das Gesicht) oder sich vormittags zum Kaffee treffen (»Apfelsaft ist mir
     lieber!«) oder sich auch an verschiedensten Aktivitäten beteiligen können. Das Angebot umfasst Tanzkurse (»Du hättest sehen
     sollen, wie Millotschka und ich miteinander getanzt haben!«) ebenso wie Kurse für Yoga (»Ah!«). Sunny Bank wird von einer
     gemeinnützigen Stiftung betrieben, und wer das Glück hat, auf der Warteliste bis ganz nach oben zu gelangen, kann sich hier
     zu einem Preis, der keine Profite einkalkuliert, einmieten. Beverley, die Leiterin, ist eine Frau mittleren Alters, deren
     dickes blond gefärbtes Haar, kehliges Lachen und enorm großer Busen sie fast wie eine ältere und gütigere Ausgabe von Valentina
     wirken lassen.
    Mag sein, dass genau deshalb Vaters Wahl auf Sunny Bank fällt.
    »Ich gehe hierher oder nirgendwohin«, erklärt er.
    |352| Natürlich ist da erst einmal die Warteliste, und deshalb rät uns Beverley, die Vater ins Herz geschlossen zu haben scheint,
     wir sollten von einem Arzt – oder vielleicht sogar von mehreren – Gutachten oder Empfehlungsschreiben einholen. Dr.   Figges ist gern bereit, etwas zu schreiben. Betreutes Wohnen, meint sie, sei genau das Richtige für unseren Vater. Sie schildert
     in ihrem Brief seine Gebrechlichkeit und dass er es so weit hat ins Dorf, wenn er einkaufen muss, und dass es ihm mit seiner
     Arthritis und den Schwindelanfällen schwer fällt, sein Haus und den Garten instand zu halten. Es ist ein einfühlsames, sehr
     persönliches Schreiben – aber ob das ausreicht? Ist es nicht besser, wenn ich noch einen anderen Arztbericht besorge? Wen
     soll ich fragen? Kurz entschlossen schreibe ich den Psychiater des Kreiskrankenhauses in Peterborough an. Nach etwa einer
     Woche kommt sein Antwortbrief zur gefälligen Weiterleitung nach Belieben. Aus psychiatrischer Sicht, heißt es da, sei Mr.   Majevskis geistige Verfassung vollkommen normal. Hinweise auf Demenz gebe es nicht. Mr.   Majevski sei also nicht pflegebedürftig und durchaus in der Lage, sich selbst zu versorgen. Für bedenklich halte er allerdings
     die Tatsache, dass Mr.   Majevski ganz allein lebe und von regelmäßigen sozialen Kontakten abgeschnitten sei, weil dadurch eine Verschlechterung seines
     jetzigen Zustandes nicht
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