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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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Turnschuhe. Im Schlafzimmer liegen ausgemusterte Kleidungsstücke,
     Einwickelpapier, leere Tragetaschen und make-up-getränkte Wattebäusche herum. Eine der Tragetaschen ist voll mit Papieren.
     Ich blättere sie durch – es sind dieselben Papiere, die ich einmal in der Gefriertruhe versteckt habe. Die Heiratsurkunde
     und die Hochzeitsfotos sind auch dabei. Dort, wo Valentina nun hinfährt, braucht sie sie wohl nicht mehr. Soll ich sie wegwerfen?
     – Nein, noch nicht.
     
    »Bist du jetzt traurig, Papa?«
    »Das erste Mal, als Valentina auszog, war traurig. Dieses Mal nicht so sehr. Ist eine schöne Frau, Valentina, aber vielleicht
     habe ich sie nicht glücklich gemacht. Vielleicht wird sie mit Dubov glücklicher. Dubov ist ein braver Mensch. Wird jetzt in
     der Ukraine vielleicht reich.«
    »Wirklich? Wieso?«
    »Ah – weil ich ihm mein Patent geschenkt habe. Mein siebzehntes.«
    Er führt mich ins Wohnzimmer und zieht einen Hefter mit verschiedenen Papieren aus dem Schrank. Technische Zeichnungen, allesamt
     fein detailliert ausgeführt und mit |340| mathematischen Hieroglyphen in Vaters Handschrift versehen. »Sechzehn Patente habe ich im Lauf meines Lebens registrieren
     lassen. Alle für sehr nützliche Dinge. Geld gebracht hat keines. Das siebzehnte jetzt – ich hatte noch keine Zeit, es anzumelden.«
    »Wofür ist es?«
    »Ackerschiene für Traktoren. Damit kann ein Traktor mit verschiedenen Geräten genutzt werden – zum Pflügen, Eggen und Säen.
     Alles ganz einfach auszuwechseln. So etwas gibt es natürlich schon, aber dieses Modell ist viel besser. Ich habe es Dubov
     gezeigt. Er versteht, wie man es einsetzen kann. Vielleicht bedeutet das die Wiedergeburt der ukrainischen Traktorenindustrie.«
    Ist das nun genial oder verrückt?
    »Komm, lass uns Tee trinken.«
     
    Abends nach dem Essen breitet Vater im Schlaf-Esszimmer auf dem Tisch eine Landkarte aus, beugt sich darüber und fährt mit
     dem Finger darauf herum.
    »Schau, hier, jetzt sind sie schon auf dem Schiff von Felixstowe nach Hamburg. Dann fahren sie von Hamburg nach Berlin, dann
     bei Guben über die Grenze nach Polen, über Breslau und Krakau zum Grenzübergang nach Przemysl. Das ist dann schon Ukraina.
     Zu Hause.«
    Seine Stimme ist immer leiser geworden.
    Ich starre auf die Landkarte. Dort ist eine andere Route mit Bleistift markiert. Die Linie führt von Hamburg nach Kiel, von
     dort hinunter nach Süddeutschland. Dann wieder nach Nordosten in die Tschechoslowakei, über Brünn und Ostrava nach Polen.
     Krakau   – Przemysl – Ukraine.
    »Und was ist das, Papa?«
    »Das war unsere Reise. Von der Ukraine nach England.« Sein Finger fährt die Route jetzt von hinten nach vorne entlang. »Gleiche
     Reise, entgegengesetzte Richtung.« Seine |341| Stimme klingt heiser, brüchig. »Schau, hier im Süden in der Nähe von Stuttgart liegt Sindelfingen. Ludmilla hat bei Daimler-Benz
     gearbeitet. Sie und Vera waren fast ein ganzes Jahr dort. 1943.«
    »Was haben sie da gemacht?«
    »Milla musste Benzinleitungen in Flugzeugmotoren montieren. Erstklassige Motoren, aber etwas schwer in der Luft. Verhältnis
     Auftrieb   – Luftwiderstand war problematisch. Manövrierfähigkeit auch nicht gut, obwohl damals gerade eine interessante neue Flügelkonstruktion   …«
    »Ja, ja«, unterbreche ich ihn. »Lass mal die Luftfahrt. Erzähl mir, was im Krieg passiert ist.«
    »Was im Krieg passiert ist? Die Leute sind gestorben – das ist im Krieg passiert.« Er presst die Kiefer zusammen und sieht
     mich mit diesem verschlossen-sturen Gesichtsausdruck an. »Die Tapfersten zuerst. Die, die an etwas geglaubt haben, sind für
     ihren Glauben gestorben. Und wer überlebt hat   …« Er hustet. »Du weißt ja, dass mehr als zwanzig Millionen Sowjetbürger in diesem Krieg umkamen   …«
    »Ja, ich weiß.« Doch diese Zahl ist so immens, dass man eigentlich nichts weiß. Wo in diesem unermesslichen Meer von Blut
     und Tränen gibt es einen Anhaltspunkt, eine Wegmarke, etwas, was sich zu dem, was wir kennen, in Beziehung setzen lässt? »Aber
     trotzdem weiß ich nichts von diesen zwanzig Millionen, Papa. Ich kenne sie nicht. Erzähl mir von dir und von Mutter und Vera.
     Was ist mit euch passiert damals?«
    Sein Finger fährt die Bleistiftlinie entlang.
    »Hier, bei Kiel, das ist Drachensee. In diesem Lager war ich eine Zeit lang. Wir haben Dampfkessel für Schiffe gebaut. Gegen
     Ende des Kriegs sind Ludmilla und Vera auch nach Drachensee
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